Andrea Nahles atmet auf, Angela Merkel atmet auf,
Horst Seehofer atmet auf, der größere Teil des Berliner Politbetriebs
atmet auf. CDU, CSU und SPD werden in den kommenden Tagen wieder eine
große Koalition bilden. Deutschland hat bald eine neue Regierung.
Also alles in bester Ordnung? Gemach! Von der sozialdemokratischen
Basis abgesegnet wurde gestern eine politische Notgemeinschaft. Sie
wird fragiler sein als alle deutschen Regierungsbündnisse der
Nachkriegszeit. Denn sowohl die SPD als auch die Union stehen weiter
unter Profilierungszwang. Bei der CDU als zunehmend inhaltsleerem
Kanzlerinnen-Wahlverein mag das nicht ganz so offensichtlich sein. In
den vergangenen Jahren gaben sich die Christdemokraten damit
zufrieden, die Regierungschefin zu stellen und Reformbemühungen der
SPD abzublocken oder aufzuweichen. Doch angesichts des Drucks von
rechts wird das auf Dauer kaum reichen. Die herben Stimmenverluste
für die Union im vergangenen September waren ein deutliches Zeichen,
dass es mit einem beherzten „Weiter so“ nicht getan sein dürfte.
Gleiches gilt in besonderem Maße natürlich für die Programmpartei
SPD. Obwohl die Zustimmung ihrer Basis zum Koalitionsvertrag weit
deutlicher ausfiel als von der Parteispitze befürchtet, ist das
Ergebnis ein lauter Warnschuss.Weite Teile der Groko-Befürworter
haben ihre Stimmen nur mit zwei geballten Fäusten in der Tasche
abgegeben. Sie votierten für das in ihren Augen kleinere Übel,
wollten damit lediglich verhindern, dass die Sozialdemokraten wieder
einmal als verantwortungslose Gesellen an den öffentlichen Pranger
gestellt werden. Daraus den Schluss zu ziehen, es gebe in der Partei
keinen erheblichen (auch programmatischen) Veränderungsbedarf, wäre
ein katastrophaler Fehler. Die SPD steht deshalb vor einem Ritt auf
der Rasierklinge. Einerseits sind ihre Spitzenleute den konservativen
Koalitionspartnern gegenüber zu einer gewissen Loyalität
verpflichtet. Andererseits muss sich die Partei dringend
resozialdemokratisieren, wieder linke Ecken und Kanten zeigen und
deutlicher für all jene streiten, die nicht mit einem goldenen Löffel
im Mund geboren wurden. In der Opposition wäre ihr das sicherlich
leichter gefallen als nun an der Seite von Merkel und Seehofer. Bei
ihrem Erneuerungsprozess darf sich die SPD nicht auf Nahles
verlassen. Sicher: Die designierte Parteichefin steht als
Fraktionsvorsitzende außerhalb der Kabinettsdisziplin. Sie kann
deshalb andere Akzente setzen als ihre Parteifreunde aus der
Ministerriege. Ob Nahles diesen strategischen Vorteil nutzt, bleibt
abzuwarten.
Entscheidender für die SPD aber wird sein: Kann die Basis mit den
vielen neuen Mitgliedern den Druck auf ihre Führung aufrecht
erhalten? Wird sie ihr zurückgewonnenes Selbstbewusstsein weiter
ausspielen? Ist auf der anderen Seite die Parteiführung dazu bereit,
die Basis weit stärker als in der Vergangheit an politischen
Weichenstellungen zu beteiligen – ähnlich, wie sie es in den
vergangenen Wochen mit dem für eine innerparteiliche Demokratie
beispielhaften Mitgliederentscheid getan hat? Eines sollte der
SPD-Spitze jedenfalls klar sein: Versanden ihre
Erneuerungsversprechen ähnlich schnell wie in den vergangenen Jahren,
schaufeln die Sozialdemokraten weiter am eigenen Grab. In Berlin
wächst nun erneut zusammen, was eigentlich nicht zusammen gehört –
mit einem fatalen Kollateralschaden. Die AfD ist künftig die
zahlenmäßig stärkste Oppositionspartei im Bundestag. Obwohl sie
während ihrer ersten Wochen im Parlament vornehmlich durch
anachronistische Irrungen, rassistische Pöbeleien und Nonsens-Anträge
aufgefallen ist, wird ihr künftig noch mehr mediale Aufmerksamkeit
zufallen. Das kann verheerende Folgen für die politische Kultur
haben. Österreich ist ein abschreckendes Beispiel. Geht Deutschland
einen ähnlichen Weg? Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen. Gut
möglich, dass deshalb der großen Erleichterung in mancher Berliner
Parteizentrale bald die große Katerstimmung folgen wird.
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