Aachener Nachrichten: Erster Baustein – Der Mindestlohn und der Arbeitsmarkt; Von Joachim Zinsen

Der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf
dem Dach. Die SPD reckt diesen Spatz seit gestern stolz in den Himmel
und jubelt: Seht her, wir haben Wort gehalten, es wird einen
gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro geben, so, wie wir es im
Wahlkampf versprochen haben. Die Freude sei den Sozialdemokraten und
ihrer Arbeitsministerin Andrea Nahles gegönnt. Denn die
Grundsatzentscheidung, auch in Deutschland eine allgemeine
Lohnuntergrenze einzuführen, ist überfällig. Die SPD kann sich diesen
Erfolg auf ihre Fahnen schreiben. Trotzdem ist allzu große Euphorie
fehl am Platz. Kommt der Gesetzesentwurf von Nahles tatsächlich so
durch das Bundeskabinett, wie er gestern vorgestellt wurde, hat die
Ministerin zwar die meisten Versuche von Seiten der Wirtschaftslobby
und der Union abwehren können, ihre ursprünglichen Pläne aufzuweichen
und zahlreiche Ausnahmen vom Mindestlohn zuzulassen. Doch an
wichtigen Stellen musste sie nachgeben. Dass Praktikanten und
ehrenamtlich Tätige nicht unter die neuen Vorgaben fallen sollen, ist
ja durchaus nachvollziehbar. Weit weniger einsichtig ist allerdings,
warum Jugendliche und Arbeitnehmer, die ein Jahr ohne Job waren, auch
künftig mit Löhnen unter 8,50 Euro abgespeist werden dürfen. Sind es
nicht gerade diese Gruppen, die am Arbeitsmarkt am dringendsten auf
den Schutz durch den Gesetzgeber angewiesen sind? Werden sie künftig
zu Arbeitnehmern zweiter Klasse? Millionen andere Beschäftigte
werden von der Mindestlohnregelung profitieren. Trotzdem sollte sich
niemand von dem Gesetz Wunderdinge versprechen. Existenzsichernd ist
dieser Mindestlohn nicht. Denn verglichen mit den Gegenstücken in
Ländern wie Frankreich, Belgien oder Luxemburg ist seine
Einstiegshöhe von 8,50 Euro relativ gering. Sie liegt deutlich
unterhalb der Schwelle, an der bei uns der Niedriglohnsektor
beginnt. Hunderttausende Vollzeitbeschäftigte werden deshalb auch
künftig trotz Mindestlohn aufstocken müssen und auf
Hartz-IV-Leistungen angewiesen sein. Der Mindestlohn kann deshalb
nur ein erster Baustein sein, um die schwache Lohnentwicklung in
Deutschland wieder zu stabilisieren. Weitere müssen draufgelegt
werden. Beispielsweise sollte der Gesetzgeber dafür Sorge tragen,
dass Tarifabschlüsse künftig leichter für gesamte Branchen als
allgemeinverbindlich erklärt werden können. Die SPD muss deshalb der
Versuchung widerstehen, sich auf ersten zarten Lorbeeren auszuruhen.

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