Aachener Zeitung: 60 und rätselhaft / Wie Angela Merkel regiert und es laufen lässt / Kommentar von Peter Pappert

Soweit hat sie es gebracht: Lange regieren, ohne
dass die Regierten ihrer überdrüssig sind. Als Sphinx zu gelten, als
Rätselhafte, von der niemand weiß, was und wohin sie will. Den
meisten Amtsträgern würde das schaden – ihr nicht. Natürlich will das
Volk erfahren, wie Probleme gelöst und Entscheidungen getroffen
werden, aber in Zeiten des Merkelianismus reicht es offensichtlich
aus, zu wissen, dass die Kanzlerin sich um die Sache kümmert und
keine Unruhe entsteht. Sogar die berühmte Raute passt ins Bild:
Gleichmut, Gleichmaß, Ruhe. Einerseits ist ihr zuzutrauen, dass sie
dieses Handspiel kühl kalkulierend einsetzt, andererseits ist kaum
vorstellbar, dass diese Frau ernsthafte Gedanken an solche
Kinkerlitzchen verschwendet. So oder so? Es wird wohl doch keine
zufällige Inszenierung sein, denn dazu sind die einzelnen Elemente
der Gesamtvorstellung zu perfekt aufeinander abgestimmt.

Was sie nicht mag

Ab in die Kabine zum WM-Team, aber bitte keine übertriebene
Kumpelhaftigkeit, schön mitfreuen, aber auch ein wenig fremdeln, Nähe
demonstrieren, aber Distanz wahren. Das gilt im Stadion – mehr noch
bei der Hautevolee. Mit Stars, Sternchen und Sektglas bei
Glitzer-Glitzer und Bling-Bling – etliche von Merkels politischen
Kollegen können nicht oft genug dabei sein. Mit ihr verbindet das
niemand. Es passt nicht zu ihr. Sie mag es nicht, und das mögen die
Leute. Dass Angela Merkel bei ihrer Doktorarbeit geschummelt oder
einen Skandal verursacht haben könnte – undenkbar. Demoskopen und
Journalisten, politische Partner und Gegner werden nicht schlau aus
ihr, und das steigert zusätzlich ihr Renommee. Sie lässt Debatten
laufen, Feuer schwelen, und die Leute haben den Eindruck, sie passe
auf, dass nichts passiert, nichts anbrennt.

Wie sie Körner streut

Als Kanzlerin kann sie immer noch gucken wie ein kleines Mädchen,
verlegen lächeln, linkisch gestikulieren. Darüber mokiert sich –
schon im eigenen Interesse – längst niemand mehr. Sie hat es sich
nicht abgewöhnt, weil es zu ihr passt und sogar Teil ihres Profils
ist – das Profil einer Mächtigen, die sich nicht verbiegen,
telegenisieren und schon gar nicht stylen lässt. Sie hat vor Jahren
an einer entscheidenden Wegmarke ihres politischen Lebens das Outfit
ein wenig verändert. Das war–s. Schließlich hat sie es sogar
geschafft, dass darüber spekuliert wird, aus welchen Gründen sie eine
bestimmte Farbenfolge an ihrer Halskette gewählt hat. Was will eine
politisch beherrschende Frau mehr? Es gibt genug Protagonisten auf
höchster politischer Ebene, die begierig wären, auf solche oder
ähnliche private Angelegenheiten angesprochen zu werden, um es
bedeutungsschwer zu erläutern. Sie schweigt, lässt rätseln und
steigert so die Wirkung. Sie streut ein paar Körner beiläufig hin,
und die werden begierig aufgepickt.

Wann sie mutig war

Die Kanzlerin mit der Raute signalisiert immer und überall
Interesse und Aufmerksamkeit. Sie tritt selbstbewusst auf, aber ohne
das Dominanzgehabe ihrer beiden Amtsvorgänger. Sie ist kein Typ für
starke Worte und harte Schläge auf die Tischkante. Markiges
Auftrumpfen, große Gesten, laute Töne – all das liegt ihr nicht. Und
es ist ganz offensichtlich, dass genau das im Volk geschätzt wird. Es
besteht ganz augenscheinlich kein Bedarf an tollen Kerlen. Ihren
beiden Vorgängern hat sie Entscheidendes zu verdanken. Kohls
Unfähigkeit, rechtzeitig abzutreten, und die Selbstgefälligkeit, mit
der er seine Partei und sich selbst ins Verderben zog, erleichterten
ihr den klaren Schnitt, den sie für nötig hielt, um die CDU zu
reformieren und modernisieren. Damals vor knapp 15 Jahren erkannten
auch die Konservativen in der CDU dieses Erfordernis. Und jene Riege
schneidiger Herren, die Kohl beerben wollten, hatte nicht den Mut, es
anzupacken, sondern nur eine große Klappe. Merkel sollte nach der
desaströsen Spendenaffäre die Drecksarbeit machen und aufräumen;
danach sollte sie wieder abgeräumt werden.

Wem sie dankbar ist

Es kam anders. Merkel hat schnell gelernt, männliche Machtspiele
zu durchschauen und zu durchkreuzen. Sie ist geschickt und nicht
aufgeregt, sie ist nicht vom Testosteron, sondern von Vernunft
gesteuert. Sie beherrscht die Balance zwischen Nachgeben und
Durchstarten, was Schröder nicht vermochte. Dessen Reformagenda 2010
hat ihn die Kanzlerschaft gekostet und ihr eine stabile Grundlage für
politische Erfolge geboten. Sie weiß es und ist dem SPD-Kanzler
dankbar dafür. Heute zum 60. Geburtstag wird orakelt, ob sie aufhört,
wann sie geht, ob es weise oder schlimm wäre, 2016 freiwillig aus dem
Amt zu scheiden, was sie sonst machen könnte, wollte, sollte, was aus
ihrer CDU würde ohne sie, was die SPD könnte ohne sie. Sie steht
daneben, schweigt, lächelt und denkt sich: Macht mal weiter so!

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