Badische Neueste Nachrichten: Es fehlt der Mut

In den 90er Jahren erfand Boris Jelzin in Moskau
eine „Rokirowotschka“-Politik. Wann immer der russische Präsident
nicht weiter wusste oder von den Medien zu heftig gescholten wurde,
drehte er schwungvoll und oft völlig willkürlich am Personalkarussell
in seiner Regierung und lenkte damit von seiner politischen Schwäche
ab. Zur Not griff der angeschlagene Jelzin alle paar Monate zu dieser
„kleinen Rochade“, um sich als der Herr der Lage zu präsentieren.
Einer ähnlichen Methode bedient sich Großbritanniens Premier David
Cameron, der gestern sein Team in der Downing Street neu
zusammengestellt hat. Zwar ist die Rochade-Frequenz des Tory-Chefs
mit der von Jelzin nicht vergleichbar – denn es ist die erste
derartige Maßnahme seit der Koalitionsbildung in London im Mai 2010.
Doch die Ziele sind die gleichen: Kritiker zu besänftigen, mögliche
Richtungswechsel vorzutäuschen und die Macht-Balance neu zu
justieren. Wie im Fall des inzwischen verstorbenen Kremlchefs wird
Camerons Trick mit dem umgebauten Kabinett nur kurzzeitig für
Erleichterung sorgen. Er hat seinen Landsleuten viel versprochen und
bislang wenig geliefert. Nun steckt der Premier in akuten Nöten. Die
Wirtschaft ist depressiv, der Schuldenabbau geht quälend langsam
voran, die soziale Misere wächst, der Koalitionsvertrag mit den
Liberaldemokraten wurde durch die Sabotage der House-of-Lords-Reform
gebrochen, die EU-Partner sind verstimmt, die Tory-Hinterbänkler
murren und die häufigen Richtungswechsel haben für Verwirrung und
Misstrauen bei den Wählern gesorgt. Durch eine radikale und
überraschende Weichenstellung in seiner Personalpolitik hätte Cameron
für eine Weile den Pessimismus in der eigenen Parteibasis vertreiben
und für neuen Schwung im Bündnis mit den Liberalen sorgen können.
Doch der gestrige kleine Wurf zeugt von mangelndem Mut oder fehlender
Weitsicht. Die Chance ist vertan. Dem Regierungsteam zur zweiten
Halbzeit der Londoner Koalition fehlen Glanz, Frische und
Kreativität. Schlüsselposten wie Finanzen, Außenpolitik oder Inneres
blieben unangetastet. Es spricht zudem wenig dafür, dass altbekannte
Gesichter auf neuen Ministerposten die bestehenden Probleme besser
und schneller lösen werden können. Seit seiner Machtübernahme
versucht Cameron ein gutes Spiel mit schlechten Karten, meistens mit
bescheidenem Erfolg. Solange es keine Erfolgsmeldungen aus der
Wirtschaft gibt und die Haushaltskassen leer bleiben, dürfte sich
daran wenig ändern.

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Badische Neueste Nachrichten
Klaus Gaßner
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