Ein Jahr nach der Landtagswahl ist der Reiz des
Neuen verflogen. Nach dem historischen Wählervotum kämpft Grün-Rot
längst mit den Fallstricken des Politikalltags und präsentiert sich
mit Licht aber auch mit viel Schatten. Wobei für die Erleuchtung
bislang vor allem der Regierungschef verantwortlich zeichnet.
Winfried Kretschmann ist ein Phänomen, weil seine Popularitätswerte
seit dem Regierungsantritt sogar noch gestiegen sind. Dass ihn drei
Viertel der Deutschen für ehrlich und glaubwürdig halten, hängt
ebenso mit seiner Vita wie mit seinem Regierungsstil zusammen. Mit
seiner Nachdenklichkeit und Bodenständigkeit hebt sich der überzeugte
Katholik aus Laiz wohltuend von den vielen aalglatten Politprofis ab.
Weil Kretschmann dem Amt die Arroganz genommen hat, fällt oft der
Vergleich mit seinem Vor-Vor-Vorgänger Erwin Teufel. Dem ersten
grünen Ministerpräsidenten kommt dies nicht ungelegen – im Gegenteil:
Kretschmann fördert dies sogar noch, indem er den politischen
Kontrahenten Teufel immer wieder lobt. Beim mehrheitlich
gutbürgerlichen Publikum in Baden-Württemberg kommt dieser Kurs gut
an, schließlich haben die Wähler am 27. März 2011 nicht für eine
Revolution gestimmt. Der konservative Grüne in der Villa Reitzenstein
ist für viele CDU-Mitglieder kein Feindbild. Trotz seiner Strahlkraft
hat sich Kretschmann schon abgenutzt. Geschadet hat ihm vor allem der
Eiertanz beim Austausch der Regierungspräsidenten. Auch hier zeigte
sich, dass es in der Regierungskoalition gewaltig knirscht. Wer
geglaubt hatte, dass sich die grün-roten Gemüter nach dem Gezerre um
Stuttgart 21 wieder beruhigen, der hat sich getäuscht. Die SPD kommt
mit ihrer Vize-Rolle in der Regierung nicht klar. Was sicher auch
daran liegt, dass von Super-Minister Nils Schmid bislang wenig zu
sehen ist. Hinzu kommt Kultusministerin Gabriele
Warminski-Leitheußer, die mit ihren vielen schulpolitischen
Baustellen ein Schwachpunkt im Kabinett ist. Um diese Defizite
auszugleichen und das eigene Profil zu schärfen, setzt
SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel den Partner mit wortgewaltigen
Alleingängen wie beim Thema Beamten immer wieder unter Druck. Im
Gegenzug fährt Kretschmann SPD-Regierungsmitgliedern etwa in der
Debatte um die Standorte für G- 9-Schulen in die Parade. Harmonie in
einer Politehe sieht anders aus. Die Opposition im Landtag hat von
den ständigen Sticheleien zwischen den Regierungspartnern bislang zu
wenig profitieren können. Dies liegt auch daran, dass die CDU nach 57
Regierungsjahren den Verlust der Macht erst einmal verdauen musste.
Inzwischen hat die Fraktion wieder Tritt gefasst und sich auf ihre
Kampagnenfähigkeit besonnen. Um Grün-Rot überzeugend an den Karren zu
fahren, müssen die Konservativen aber noch zulegen. Beim Personal und
bei den Inhalten. Die klare Alternative zu Kretschmann und damit auch
der Spitzenkandidat für die nächste Landtagswahl ist noch nicht
gefunden. Zudem muss die Südwest-CDU einen überzeugenden politischen
Gegenentwurf zu Grün-Rot vorlegen.
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