Badische Neueste Nachrichten: Wohltuend normal

Basisdemokratie ist eine feine Sache – wenn nur
die Basis nicht wäre. Dass Claudia Roth sich mehr als ein Jahrzehnt
lang an der Spitze der Grünen behaupten konnte, verdankt sie nicht
zuletzt ihrem guten Draht in die Partei. Anders als viele Abgeordnete
und Funktionäre, die schon mit den Augen zu rollen begannen, wenn
auch nur ihr Name fiel, hat die grüne Basis die schwäbische Powerfrau
gerade für ihre temperamentvolle, unkonventionelle Art geschätzt und
sie auf Parteitagen meist mit guten Wahlergebnissen belohnt. Umso
tragischer ist die Erfahrung, die Claudia Roth nun macht: Nur noch
jeder vierte Grüne hält die Vorsitzende für eine geeignete
Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl. Deutlicher kann eine Partei
ihr Unbehagen kaum noch ausdrücken. So gesehen ist es kein Wunder,
dass die 57-Jährige sich die Frage gestellt hat, ob sie noch einmal
als Parteichefin antreten soll. Der Erfolg der Außenseiterin Katrin
Göring-Eckardt beim Mitgliederentscheid ist ja nicht nur eine schwere
persönliche Schlappe für ihre Kontrahentin, sondern auch mit einer
inhaltlichen Forderung verknüpft: Die Mehrheit der Grünen wünscht
sich, dass ihre Partei in konsequenter Anwendung des
Kretschmann-Prinzips weiter in die Mitte rückt, dass sie mehr Wähler
aus dem bürgerlichen Milieu anspricht und sich, in Teilen zumindest,
von ihrer Gründergeneration emanzipiert. Zu Jürgen Trittin als
Spitzenkandidat gab es keine ernsthafte Alternative – zu Claudia Roth
und Renate Künast schon. Im grünen Lager wächst das Bedürfnis nach
einem Generationswechsel, und Katrin Göring-Eckardt hat es
verstanden, dieser Sehnsucht eine Stimme zu geben. Die Pfarrersfrau
aus Thüringen ist das massenkompatible Gesicht der Grünen:
Versöhnlich im Ton, hinreichend flexibel in der Sache, gewinnend im
Auftreten. Neben dem früheren Bürgerschreck Trittin wirkt sie in
ihrer Unaufgeregtheit wohltuend normal. Sie ist sozusagen die
Kretschfrau der Partei: Bodenständig, bibelfest – aber nicht von
gestern. Jenseits aller taktischer Überlegungen zeigt die Wahl der
46-Jährigen vor allem eines: Die Grünen von heute denken in ihren
eigenen Angelegenheiten bürgerlicher als es das Establishment der
Partei oft wahrhaben will. Angela Merkel wird das aufmerksam
registriert haben. Der grüne Mitgliederentscheid hat schließlich auch
ihre strategischen Optionen enorm erweitert: Anders als für Claudia
Roth, die ein Bündnis mit der Union als Verrat am grünen
Gründungsmythos empfinden muss, hat eine solche Koalition aus der
Sicht von Jürgen Trittin und Katrin Göring-Eckardt durchaus ihren
Reiz, falls es nach der Wahl für Rot-Grün nicht reichen sollte. Für
den einen, Trittin, wäre eine solche Allianz dann die letzte
Gelegenheit, noch einmal mitregieren zu dürfen. Für die andere, die
neue Spitzenkandidatin, wäre sie die perfekte Gelegenheit, die Grünen
aus ihrer babylonischen Abhängigkeit von der SPD zu befreien und sich
dauerhaft als Partei der Mitte zu etablieren. Nur sagen dürfen es
beide noch nicht laut. Sonst könnte Peer Steinbrück gleich einpacken.

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