BERLINER MORGENPOST: Aus tiefer Sorge um Deutschland – Leitartikel

Das ist wahrlich keine reine Retourkutsche. Wer
Helmut Kohls ungewöhnlich scharfe Kritik an der Politik Angela
Merkels als bitterböse Rache eines alten Mannes abtut, der denkt zu
simpel. Richtig ist, dass die damalige Generalsekretärin und heutige
Bundeskanzlerin mit ihrem mittlerweile auch historisch bedeutsamen
Beitrag in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 22. Dezember
1999 Kohl das politische Genick gebrochen hat. Damals rief sie im
Zusammenhang mit der Parteispendenaffäre die CDU zum Bruch mit dem
Übervater auf. Seitdem ist ihr Verhältnis – freundlich formuliert –
getrübt. Aber der Grund, sich seine Sorgen jetzt öffentlich so
drastisch von der Seele zu reden, ist ein tieferer. Kohl sorgt sich
um eines seiner politischen Vermächtnisse – die Einigung Europas. Und
er sieht einen Grundpfeiler deutscher Nachkriegspolitik zumindest
seiner CDU in Einsturzgefahr: deutsche Politik sei innen- wie
außenpolitisch keine berechenbare Größe mehr. Auf sie sei kein
Verlass mehr, sie habe keine Prinzipien und damit keine Werte mehr.
Weltpolitisch irrlichtere sie und lasse ihre Verbündeten an
notwendiger Treue zweifeln. Ein vernichtender, aber kein
konstruierter, wenn auch nicht ganz neuer Befund. Was ihn aus dem
Munde Helmut Kohls so brisant macht, ist die Tatsache, dass viele in
der CDU so denken. Auch unsere wichtigsten Verbündeten stellen sich
längst die Frage, welch ernst zu nehmender Partner Deutschland noch
ist. Vor ein paar Tagen die Philippika des früheren Stuttgarter
Ministerpräsidenten Erwin Teufel, jetzt die alarmierende
Lagebeschreibung Helmut Kohls – beide treffen mitten ins blutende
Herz der CDU, beide fokussieren die Unzufriedenheit vieler
Parteimitglieder wie unionsnaher Wählerschichten. Druck von ganz
oben, Druck von unten, Druck auch noch von der Seite. In der CDU
brodelt es. Und ein Entweichen des Drucks ist für Angela Merkel auch
zu Beginn der zweiten Hälfte der Legislaturperiode nicht zu erkennen.
Zu leugnen ist das alles nicht. Die Kritik der Altvorderen wie Teufel
und Kohl korrespondiert mit den von der Parteivorsitzenden
verordneten Regionalkonferenzen. Die sollen die Basis ruhigstellen.
Die Fraktionssondersitzung der Bundestagsabgeordneten in dieser Woche
noch mitten in der Sommerpause ist ein Warnsignal dafür, wie wenig
überzeugt auch viele eigene Volksvertreter von der gegenwärtigen
Euro-Krisenpolitik und damit auch von Angela Merkels Rolle auf der
europäischen Bühne sind. Und wäre das nicht alles schon schlimm
genug, setzt der Bundespräsident mit seiner Schelte an den
vermeintlichen Euro-Rettern jetzt – wie weiland sein Vorgänger Horst
Köhler – noch eins drauf. Zwei Jahre vor der Bundestagswahl
eigentlich eine Lage, wie zum Putsch geschaffen. Den allerdings muss
Angela Merkel kaum fürchten. Es gibt keine Putschisten mehr in der
CDU. Alle potenziellen Aufrührer haben vor der starken Frau
resigniert. Friedrich Merz weg, Koch weg; in ihren besten Jahren in
die Wirtschaft gewechselt. Und Christian Wulff ließ sich in das
höchste Staatsamt befördern. Auch deshalb wirkt die Kanzlerin
zumindest nach außen noch immer so gelassen. Gefährlich aus heutiger
Sicht wird es für sie erst an einem September-Abend 2013. Wenn die
nächste Bundestagswahl ausgezählt ist.

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