BERLINER MORGENPOST: Berlin feiert die Einheit – Leitartikel von Christine Richterüber 28 Jahre deutsche Wiedervereinigung

28 Jahre, was für eine lange Zeit. Ich habe die
Bilder vom Tag der Deutschen Einheit, mit Helmut Kohl, Hannelore
Kohl, Willy Brandt, Hans-Dietrich Genscher und Richard von Weizsäcker
auf den Stufen des Reichstages, noch deutlich vor Augen. Der Tag
selbst ist mir nicht mehr ganz so in Erinnerung wie der 9. November
1989, der Tag des Mauerfalls, und die Wochen danach. Aber ein
Feiertag, das war der 3. Oktober für mich seitdem immer.

„Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“, hatte Willy Brandt am
Tag nach dem Mauerfall, also ein Jahr vor der deutschen Einheit,
gesagt. Sehr schnell war dann klar geworden, dass sich die einst
geteilten deutschen Staaten schneller zu einem vereinigen müssen, als
manch ein Politiker dies gewollt hätte. Aber es war nun einmal keine
Wende, die 1989 stattfand, sondern der Zusammenbruch des Systems DDR.
Mit all seinen Folgen. Wirtschaftlich, politisch, gesellschaftlich.

Seitdem wird stets anlässlich des Tages der Deutschen Einheit
Bilanz gezogen, um zu sehen, ob wirklich zusammenwächst, was
zusammengehört. Auch 2018 zeigt sich, dass der Prozess offensichtlich
viel länger dauert, als man damals, in den euphorischen Tagen,
gedacht hat. Das Lohn- und Rentenniveau ist immer noch
unterschiedlich, die Wirtschaftskraft auch, viele Menschen im Osten
fühlen sich bis heute benachteiligt und wenig respektiert.

Ein Großteil meiner Familie lebte in der DDR, seit meinem vierten
Lebensjahr waren wir jedes Jahr, später mehrmals jährlich in Dresden
oder mit der Verwandtschaft und Freunden in Ost-Berlin, in Leipzig,
Jena oder der Sächsischen Schweiz unterwegs. Ich wollte immer
wiedervereinigt werden, erlebte nach 1990 aber auch, dass das Leben
in dem jeweils anderen Staat einen selbst nachhaltig geprägt hat,
dass man die Sozialisation nicht einfach so abstreifen kann, dass es
auf einmal im Alltag Verständigungsprobleme gab, obwohl wir doch alle
Deutsch sprachen.

Ich glaube bis heute, dass beide Seiten unterschätzt haben, was
für ein gewaltiger Transformationsprozess damals, 1990, eingeleitet
wurde. Und natürlich ist vieles nicht gut gelaufen, gerade bei der
Umstrukturierung der Wirtschaft. Aber natürlich ist auch vieles
gelungen, wie der Aufbau der demokratischen Strukturen oder die
Entwicklung, ja der Wiederaufbau in den ostdeutschen Städten wie
Potsdam, Dresden, Leipzig oder Erfurt.

Ich persönlich finde es noch immer schade, wenn ich erfahre, wie
viele Menschen aus Ost und West noch nicht im jeweils anderen Teil
Deutschlands waren. Wenn mir Westdeutsche erzählen, dass sie noch nie
an der Ostsee waren, dass sie gar nicht wissen, wo Meißen liegt. Oder
Ostdeutsche, die zwar Mallorca kennen, aber weder das Ruhrgebiet noch
den Bodensee.

Berlin feiert in diesem Jahr den Einheitstag besonders groß. Nicht
um von den noch bestehenden Problemen abzulenken, sondern um sich zu
erinnern, um dankbar zu sein und sich zu freuen – über diese
wiedervereinigte Stadt und das eine Land.

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