Ein Bahnhof bringt die Republik ins Wanken. Längst
ist Stuttgart 21 kein rein regionales Kampffeld mehr. Seit die
Bundeskanzlerin die Auseinandersetzung über das Milliardenprojekt in
der Haushaltsdebatte zum Testfall für die Zukunftsfähigkeit dieses
Landes hochstilisiert hat, ist der schwäbische Tiefbahnhof in spe ein
Konfliktfall auch von bundespolitischer Brisanz. Wer derart wie die
Stuttgarter Stadt- und die baden-württembergische Landesregierung in
der Kritik steht, sollte sein Handeln doppelt wägen. Auch wenn nach
allen parlamentarischen Formalitäten das Recht auf ihrer Seite ist.
Das nämlich billigt keineswegs die Härte, mit der auch mit
nachträglicher Billigung die Polizei den Widerstand der Demonstranten
zu brechen versucht hat. Selbst wenn den Sicherheitskräften keine zur
Gewalt entschlossenen schwarzen Blöcke wie regelmäßig in Berlin
gegenüberstanden, hätten sie etwas von ihren Hauptstadtkollegen
lernen können: Deeskalation, die Strategie der ausgestreckten Hand,
die erst, dann aber entschlossen, zupackt, wenn es zu Gewaltszenen
kommt. Von denen waren die vorwiegend dem bürgerlichen Milieu
entstammenden Stuttgarter Demonstranten weit entfernt. Ähnlich wie
schon in Hamburg, als eine Schulreform gekippt wurde, wird auch in
Stuttgart der Bürgeraufstand aus der Mitte der Gesellschaft geprobt.
Die lässt es sich, wenn es um kommunale Großprojekte oder Reformen
geht, zunehmend nicht mehr gefallen, dass allein der demokratische
Weg durch die Instanzen eingehalten wird. Der Ruf nach
Bürgerbeteiligung wird seit Jahren unüberhörbar lauter. Das macht
Entscheidungen für die Politik schwieriger. Denn sie können sich
nicht länger allein auf Gremienbeschlüsse verlassen. Sie müssen viel
stärker als früher ihre Entscheidungen transparent und in einem
permanenten Kommunikationsprozess den Bürgern nachvollziehbar und
verständlich machen. Lerne: Politik ist letztlich für die Bürger da,
nicht für die Politiker. Das alles ist in Stuttgart sträflich
vernachlässigt worden. Hinzu kommt eine gewisse Arroganz der Macht im
Stuttgarter Rathaus wie im Haus des neuen Ministerpräsidenten Stefan
Mappus. Sie feuert den Bürgeraufstand weiter an. Ein solcher kann bei
der Landtagswahl im März nicht nur die Dauerherrschaft der CDU im
„Ländle“ brechen. Auch Angela Merkel müssten, da sie Stuttgart 21 zu
ihrer Sache gemacht hat, neue Abstiegsängste befallen, wenn es dank
Deeskalation nicht gelingt, die Gemüter in Stuttgart zu beruhigen.
Das allerdings ist schwerlich zu erwarten, da der Streit längst auch
Teil des Wahlkampfs geworden ist. Die Erfahrungen mit Stuttgart oder
in unserer Region mit dem Widerstand gegen die unterirdische Lagerung
von Kohlendioxid (CCS-Technologie) erlauben allerdings in der Tat
auch diese Frage: Sind Großprojekte und neue Technologien – und damit
ökonomische Zukunftssicherung – in Deutschland überhaupt noch
durchsetzbar?
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