Es gehört zu den Flüchen einer sich immer schneller
drehenden Demokratie, dass politische Entscheidungen meist isoliert
betrachtet und hysterisiert werden. Kaum ein neues Gesetz, eine neue
Regelung, die in der Öffentlichkeit in Gänze und Zusammenhang
debattiert oder durchdacht wird. Beim Energieplan der Bundesregierung
wird ausschließlich die Laufzeitverlängerung debattiert, kaum aber
das Vorhaben, Deutschland in 40 Jahren zu 80 Prozent von
regenerativen Energien antreiben zu lassen. Das Ende des Atomstroms
ist besiegelt, so oder so. Dennoch beißt sich das Land an diesem
Symbolkonflikt fest. Dabei wäre es höchste Zeit zu überlegen, wo 3600
Kilometer neuer Überlandleitungen herkommen sollen, wenn in den
vergangenen 20 Jahren gerade mal 90 Kilometer geschafft wurden. Wie
trügerisch das Festbeißen an singulären Symbolthemen sein kann,
beweist derzeit das Elterngeld. Vor Jahresfrist noch als
Zauberinstrument gepriesen, das Paare zum zügellosen Zeugen bewegen
sollte, erweist sich die Prämie inzwischen als ebenso teuer wie
wirkungslos. Die Lust am Kinderkriegen lässt sich mit einer Handvoll
Euro nicht so einfach wecken. Kinder haben wohl doch mehr mit
gesellschaftlichem Klima zu tun und weniger mit Geld. Eine hoch
individualisierte Gesellschaft funktioniert nicht wie eine Drehorgel:
Spielt die Politik an einer Kurbel, ertönt noch lange nicht die
gewünschte Melodie. Schlimmer wird es noch, wenn gleichzeitig und
ungeduldig an verschiedenen Kurbeln gedreht wird. Das angepeilte
Problem wird zwar nicht gelöst – dafür aber eine Reihe anderer
verschärft. Mustergültig wird gedankenarme und koordinationsfreie
Kurbel-Politik derzeit auf dem Feld von Bundeswehr- und
Bildungsreform vorgeführt. Das allenthalben herrschende Tempo- und
Spardiktat könnte jungen Menschen 2011 und 2012 einen Sommer des
Horrors bescheren. Da schwappt ein Doppeljahrgang Erstsemester in die
Universitäten, da Abiturienten mit 13 wie mit zwölf Jahren Schulzeit
gemeinsam ihren Abschluss machen. Die Bundeswehrreform versperrt
gleichzeitig die Kasernen, die als eine Art Vorfluter hätten dienen
können. Nebenbei sind die Hochschulen und eine in Teilen durchaus
widerständige Professorenschaft mehr oder weniger intensiv damit
befasst, das umstrittene Bachelor-/Master-System der Realität
anzupassen. Wenige Jahre später aber sollen – Bildung! Bildung!
Bildung! – mehr und besser ausgebildete Uni-Absolventen denn je in
die Schlacht um Weltmarktanteile ziehen. Berlin, Deutschlands
attraktivste Studienstadt, reagiert immerhin. Zunächst mit 2500 neuen
Studienplätzen, die nun angeboten werden sollen. Das ist mal ein
Wort. Ob die vielen jungen Leute allerdings auch Sitzplätze und
Prüfungstermine bekommen oder gar mal ein Gespräch mit dem
überlasteten Dozenten, bleibt vorerst unklar. Fakt ist: Gegen zügige
politische Entscheidungen ist nichts einzuwenden – aber sie sollten
sich nicht widersprechen oder gar gegenseitig ausbremsen. Wer soll
denn das ewige Bildungsgerede glauben, wenn der Nachwuchs bestenfalls
zum Chaospiloten ausgebildet wird.
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