BERLINER MORGENPOST: Der Schattenüber dem D-Day/ Ein Leitartikel von Jochim Stoltenberg

Freiheit und Demokratie sind Voraussetzung dafür,
dass die Menschen friedlich zusammenleben. Auch über nationale
Grenzen, Sprachen und Kulturen hinweg. Mit diesen Werten leben zu
können ist leider nicht so selbstverständlich, wie es die
westdeutsche Nachkriegsgeneration und die ostdeutsche
Nachwendegeneration glücklicherweise erfahren haben. Dass Demokratie
und Freiheit gegen Okkupanten und Unterdrücker bisweilen auch unter
schwersten Opfern erkämpft werden müssen, daran haben am D-Day 19
Staats- und Regierungschefs erinnert. Zu Recht würdigte US-Präsident
Barack Obama die alliierten Soldaten als Wegbereiter für Demokratie
und Freiheit.

Zu dieser Feier anlässlich des 70. Jahrestags der Landung in der
Normandie auch die deutsche Bundeskanzlerin – zusammen mit den
Siegern von damals – als willkommenen Gast einzuladen, zeigt, wie
weit die Versöhnung zwischen den Feinden von einst gediehen ist. Und
doch lag ein langer, politisch-militärischer Schatten über dem
meteorologischen Sonnenschein. Es ist die Krise um die Ukraine, die
plötzlich wieder von imperialen Machtgelüsten und latenter
Kriegsgefahr kündet. Frieden in Europa, Freiheit und Demokratie
bleiben gefährdet, weil der Anfang der Neunzigerjahre begonnene
Aussöhnungsprozess zwischen Ost und West gestoppt ist.

Keiner weiß, was Wladimir Putin als Teilnehmer der Gedenkfeier im
Innersten seines Herzens bewegt hat. Es war richtig , auch ihn
einzuladen. Eine bessere Lektion dafür, wie wichtig die Werte der
Freiheit im westlichen Selbstverständnis sind, konnte ihm nicht
erteilt werden. Dem Präsidenten eines Russlands, das sich mit der
Okkupation der Krim und der gezielten Destabilisierung der
geschrumpften Ukraine bedenkenlos über das Völkerrecht hinwegsetzt.
Bleibt zu hoffen, dass Putin in der Normandie besser gelernt hat
einzusehen, dass es für Demokratien Grenzen des gerade noch
Hinnehmbaren gibt.

In der globalisierten Welt von heute sind Schlachten, wie sie vor
70 Jahren geschlagen wurden, nicht länger realistisch. Aber das ist
kein Freibrief, zur Machtpolitik überholter Zeiten zurückzukehren.
Die Welt von heute ist vernetzt und durch gegenseitige
wirtschaftliche wie technologische Abhängigkeit geprägt. Das macht
auch Russland verwundbarer, als es der Kreml-Chef vielleicht glaubt.
Er sollte sich nicht täuschen, dass Demokratien selbst nach längerem
Zögern entschlossen sein können. Ihre stärkste Waffe sind heute nicht
Panzer, sondern Hiebe gegen die ohnehin schwächelnde Wirtschaft.

Der Leitartikel im Internet: www.morgenpost.de/128815031

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