BERLINER MORGENPOST: Die Linkspartei ist nicht abgeschrieben – Leitartikel

Dass die Wahl unseres Staatsoberhaupts immer mehr
ist als die Kür des Präsidenten, hat sich so deutlich wie selten
zuvor bestätigt. Ein Kampf um die Macht im Lande war“s. Mit dem
Punktsieger Christian Wulff, der heute ins Schloss Bellevue einzieht.
Und mit gleich zwei Verlierern. Angesichts des Menetekels im
schwarz-gelben Mehrheitslager mit der Anführerin Angela Merkel ist
zunächst etwas aus dem Fokus geraten, dass auch das rot-rot-grüne
Oppositionslager seine Bewährungsprobe nicht bestanden hat. Die
zunächst stille, vor dem dritten Wahlgang aktiv beförderte Hoffnung
von SPD und Grünen, dank der Linkspartei doch noch ihren Kandidaten
Gauck durchzubringen und damit das Sprengpotenzial innerhalb der
Regierung zu vermehren, war am Ende trügerisch, die Enttäuschung
riesig. Sie geht so weit, dass SPD und Grüne nach der
Verweigerungshaltung der Linkspartei kaum noch Chancen für künftige
rot-rot-grüne Bündnisse sehen. Das sollte nicht besonders ernst
genommen werden. Schon im Fall der Präsidentenwahl ist das
Spitzenpersonal von SPD und Grünen der Linkspartei so weit wie noch
nie – geradezu kotauartig – entgegengekommen, um ihre Unterstützung
im entscheidenden dritten Wahlgang zu erbitten. Vergeblich, weil
Lafontaine, Gysi und Genossen von ihrer Fundamentalopposition nicht
lassen wollen. Entscheidender aber dürfte gewesen sein, dass die
Linkspartei nicht glaubte, sich selbst und ihrem Milieu einen
Kandidaten zumuten zu können, der so radikal wie glaubhaft für die
Aufklärung der Stasi-Verbrechen und die Mahnung vor Schönrederei der
DDR steht. Die Linkspartei hat damit einmal mehr ihr wahres Gesicht
gezeigt, sich einer überfälligen Einsichts- und Versöhnungsgeste
verweigert. Das Wehklagen von SPD und Grünen, damit sei eine große
Chance für rot-rot-grüne Experimente vertan, ist eine Momentaufnahme.
Wenn es um die Macht geht und sich neue Perspektiven für Mehrheiten
des linken Lagers eröffnen, wird aus dem Frust von heute wieder
Hoffnung für morgen. In Nordrhein-Westfalen laden SPD und Grüne die
zuvor als „koalitionsunfähig“ verschmähte Linkspartei bereits als
Mehrheitsbeschaffer für ihre Landesregierung ein. Ganz zu schweigen
von Berlin. Hier findet der stellvertretende Vorsitzende der
Bundes-SPD und Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit immer wieder
Argumente für seine Koalition mit der Linkspartei, solange die ihm
dienlich ist. Das wird spätestens 2013, wenn die Zahlen reichen, im
Bund nicht anders sein. Mit welchem SPD-Kanzlerkandidaten auch immer.
Wer nimmt dann noch ernst, worüber er sich vor drei Jahren
echauffiert hat? Was aber würde der rot-grüne
Präsidentschaftskandidat Joachim Gauck dann zu einem Bündnis mit den
SED-Erben sagen? Das würde Sozialdemokraten und Grüne kaum mehr
interessieren. Joachim Gauck hat am Mittwoch seine Schuldigkeit
getan.

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