BERLINER MORGENPOST: Ein Hoffnungsschimmer / Leitartikel von Kerstin Münstermann zum Familiennachzug

Kurzfassung: Für die Wähler, die seit mehr als vier
Monaten auf eine Regierung warten, bedeutet dies ein Fünkchen
Hoffnung. Könnte es doch sein, dass sich am Ende die Erkenntnis
durchsetzt, das jenseits der reinen Klientelpolitik das Land im Blick
zu behalten ist? Gibt es noch Politiker, denen bewusst ist, dass
Formulierungen in Koalitionsverträgen oft nur eine kurze Haltbarkeit
haben? Die wahren Herausforderungen werden sich erst beim Regieren
zeigen. Beispiel Familiennachzug: Im Falle einer neuen starken
Migrationsbewegung Richtung Europa sind die Zahlenspiele Makulatur.
Da sind dann politische Tugenden wie schnelles Handeln, Umsicht und
Haltung gefordert. All das gibt es in diesen Tagen in Berlin nur
selten.

Vollständiger Leitartikel: Eine erste Hürde ist genommen. CDU, CSU
und SPD einigten sich auf eine Lösung beim Familiennachzug. Ob nun –
je nach Interpretation – zunächst übergangsweise oder nicht: Das
Thema des Familiennachzugs für subsidiär Geschützte ist erst mal vom
Tisch der Verhandler. Erreicht wurde ein klassischer Kompromiss.
Gesichtswahrend für beide Seiten. Das ist wichtig; vor allem beim
heiklen Thema Migration, das bei CSU und SPD emotional beladen ist.
Das Thema des Familiennachzugs ist nüchtern betrachtet, angesichts
der Zahl von rund 15.000 Asylsuchenden, die jeden Monat teils illegal
über die Grenzen nach Deutschland kommen, eher ein Randaspekt. Doch
es steht für das Flüchtlingsthema, das die Volksparteien im Wahlkampf
unter der Decke hielten. Mit dem Ergebnis, dass die Alternative für
Deutschland (AfD) ihren Wahlerfolg daraus zog. Das treibt besonders
die CSU in der Analyse ihrer Wahlschlappe um – und führt bei den
bayerischen Parteioberen dazu, dass das Thema mit Schnappatmung
verbunden ist. Mit Blick auf die Landtagswahl im Herbst will sich die
CSU ihren Markenkern, eine Begrenzung der Zuwanderung nach
Deutschland, nicht nehmen lassen. Die Sozialdemokraten wiederum
machen bei dem Thema der Familienzusammenführung, das vor allem
Kriegsflüchtlinge betrifft, zu Recht ein „Gebot der
Mitmenschlichkeit“ aus. Doch eine wirkliche Haltung der SPD in der
Flüchtlingsfrage steht aus. Die Parteiführung weiß sehr genau, dass
in ihren Ortsvereinen und Wählern die Frage der Migration nicht nur
positiv besetzt ist. Die Kommunen, darunter viele SPD regiert,
beklagen seit Langem eine Überforderung, etwa bei den Kosten und dem
Wohnungsbau. Nun gab es also einen klassischen Kompromiss: Die Bayern
mussten schon in den Sondierungen hinnehmen, dass der Familiennachzug
für die vorübergehend geschützten Flüchtlinge nicht wie bisher
komplett ausgesetzt wird. Und nun, dass eine Härtefallregelung
bestehen bleibt. Die SPD musste einsehen, dass es auch in der CDU
unter der einst als Flüchtlingskanzlerin bezeichneten Angela Merkel
keine Bereitschaft mehr gibt, die Flüchtlingspolitik allzu freizügig
zu gestalten. Trotzdem können sich die Sozialdemokraten auf die Fahne
schreiben, die Angehörigen von Flüchtlingen nicht ganz außen vor
gelassen zu haben – und im Einzelfall Gnade vor Recht ergehen zu
lassen. Interessant ist, wer die politische Einigung am
Dienstagmorgen erzielt hat. In der Arbeitsgruppe Migration der
Koalitionsunterhändler wurde noch am Montag zwischen CSU und SPD
heftig gestritten – so sehr, dass man zeitweise Argumente nur noch
schriftlich austauschte. Am Ende mussten die Fraktionsvorsitzenden
Volker Kauder für die CDU, Andrea Nahles für die SPD und Alexander
Dobrindt für die CSU in den Ring. Für die Wähler, die seit mehr als
vier Monaten auf eine Regierung warten, bedeutet dies ein Fünkchen
Hoffnung. Könnte es doch sein, dass sich am Ende die Erkenntnis
durchsetzt, das jenseits der reinen Klientelpolitik das Land im Blick
zu behalten ist? Gibt es noch Politiker, denen bewusst ist, dass
Formulierungen in Koalitionsverträgen oft nur eine kurze Haltbarkeit
haben? Die wahren Herausforderungen werden sich erst beim Regieren
zeigen. Beispiel Familiennachzug: Im Falle einer neuen starken
Migrationsbewegung Richtung Europa sind die Zahlenspiele Makulatur.
Da sind dann politische Tugenden wie schnelles Handeln, Umsicht und
Haltung gefordert. All das gibt es in diesen Tagen in Berlin nur
selten.

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