BERLINER MORGENPOST: Eine Untat, die fassungslos macht – Leitartikel

Es fällt schwer, nicht die Fassung zu verlieren
angesichts der Ereignisse in Norwegen. Die Erschütterung des
Grundvertrauens in die Schutzvorrichtungen der Zivilisation, auf die
Terrorismus stets abzielt, hat in diesem Fall eine weitere Steigerung
in die Dimensionen des Unheimlichen und Grauenvollen erfahren. Da ist
zunächst der Eindruck, dieses sich allen sinnsuchenden Deutungen
entziehende Blutbad sei wie aus dem Nichts gekommen. Auf neue
islamistische Terroranschläge wie in Madrid 2004 und London 2005 war
Europa, zumindest verstandesmäßig, vorbereitet. Dass der
islamistische Terror auch befriedete, mustergültig „multikulturelle“
skandinavische Länder treffen kann, war spätestens seit dem
Bombenanschlag in Stockholm Ende vergangenen Jahres klar. Auch
Norwegen sah sich wegen seiner Beteiligung an den Nato-Einsätzen in
Afghanistan und Libyen wiederholt mit Terrordrohungen von dieser
Seite konfrontiert. Dass die Medien zunächst auf diesen Hintergrund
spekulierten, drückt auch den Reflex aus, angesichts des Unfassbaren
rasch wieder auf ein makabererweise bereits vertrautes gedankliches
Terrain zu gelangen. So grässlich die Untaten der Islamisten sind, es
bleibt uns das stabilisierende Gefühl, gegen ihre Umtriebe
einigermaßen wirksame Abwehrmaßnahmen entwickelt zu haben und ihnen
somit nicht mehr willkürlich ausgeliefert zu sein. Dass aber ein von
der Polizei bisher unbemerkter Einzelner eine derartige
Vernichtungskraft entfacht haben soll, lässt einen bis ins Mark
erschaudern – wie die Erkenntnis, dass es sich bei diesem Mann um
einen offenbar wohlsituierten, dazu noch klischeehaft blonden und
blauäugigen Bürger aus der Mitte der norwegischen Gesellschaft
handelt. Nicht nur gelang es ihm, ins Zentrum der Hauptstadt Oslo und
in unmittelbare Nähe einer Schaltstelle der Regierung vorzudringen,
um dort verheerende Zerstörungen anzurichten. Er kombinierte dies mit
einem Akt berserkerischer Aggression gegen eines der verwundbarsten
Weichteile der Gesellschaft, indem er ein mit gespenstischer
Kaltblütigkeit durchgeführtes Massaker an sorglos urlaubenden Kindern
und Jugendlichen anrichtete. Ob der Täter tatsächlich allein
handelte, ob er einen oder mehrere Komplizen hatte, ob er gar doch
ein Netzwerk Gleichgesinnter hinter sich wusste – bestätigt sich sein
rechtsnationalistisches, christlich-fundamentalistisches,
antimuslimisches Weltbild als Motiv für seine Untaten, lässt dies in
jedem Fall eine neue Dimension terroristischer Bedrohung aufscheinen,
mit der bisher kaum jemand gerechnet hat. Für Europa ist dies ein
ähnlicher Schock wie für die USA der verheerende Bombenanschlag auf
ein Regierungsgebäude in Oklahoma 1995. Dort führte zwar letztlich
ein Einzelner die Wahnsinnstat aus, seine Mordlust war jedoch von
einem Biotop aus selbst ernannten Endzeitkriegern gespeist, die sich
im letzten Gefecht gegen finstere, zersetzende internationale Mächte
und gegen ihre Regierung sehen, der sie vorwerfen, Amerika seinen
Todfeinden auszuliefern. Im sich gerne vollendet aufgeklärt
gebenden Europa tat man solche Erscheinungen gerne als Exzesse eines
in Teilen noch halb wilden, unzivilisierten, paranoiden Amerikas ab.
Jetzt aber können wir auch bei uns die Herausbildung einer solchen
potenziell mörderischen Gegenwelt nicht mehr ausschließen. Es wäre
unsinnig, aus islamfeindlichen Einträgen des Massenmörders von Oslo
in Internetforen zu folgern, es führe eine direkte Linie von auch
hierzulande verbreiteten obsessiv muslimfeindlichen – oft zugleich
auch antisemitischen – Affekten zu terroristischer Aktivität. Die
Gefahr aber, dass sich fanatische Randgruppen unter dem Vorwand der
Angst vor der (Selbst-)Auslöschung des „christlichen Abendlandes“
ihren islamistischen Antipoden – deren paranoiden Wahn sie in
Wahrheit teilen – angleichen und ihre Methoden übernehmen könnten,
ist nach dem Horror von Oslo nicht mehr von der Hand zu weisen. Das
Prinzip des islamistischen Terrorismus, möglichst viele unschuldige
Menschen umzubringen, hat teuflische Maßstäbe der
Aufmerksamkeitserregung in einer reizüberfluteten Mediengesellschaft
gesetzt. Ähnliches gilt auf anderer Ebene für spektakuläre Amokläufe.
Machen wir uns nichts vor: Je mehr sich die offene Gesellschaft von
solchen, alles Fassungsvermögen übersteigenden Untaten überwältigt
zeigt, umso mehr reizt es wahnhafte Geister jeglicher Spielart zur
Nachahmung und nochmaligen Überbietung an. Dieser perfiden Spirale
werden wir trotz aller notwendigen Sicherheitsmaßnahmen nicht
endgültig entkommen können.

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