Kaum eine Gelegenheit, die Recep Tayyip Erdogan
nicht nutzt, um den Fortschritt seines Landes, insbesondere den
wirtschaftlichen, zu preisen. Letzterer kann sich in der Tat sehen
lassen. In den vergangenen zehn Jahren ist die Wirtschaft der Türkei
im Schnitt um jeweils fünf Prozent gewachsen. Steigerungsraten, von
denen in der EU nur geträumt wird. Aber für welchen Preis?! Wohin
Erdogans strikt neoliberaler Wirtschaftskurs führt, zeigt die
Katastrophe im Bergwerk der Provinz Soma.
Die wohl weit mehr als 280 toten Kumpel sind eben nicht, wie der
selbst ernannte Heilsbringer Erdogan meint, ein normaler
Arbeitsunfall, wie er schon immer und überall auf der Welt in
Bergwerken vorkomme. Welch zynischer Beschwichtigungsversuch! Nach
1992 und 2010 (insgesamt 293 Tote) ist es schon die dritte große
Tragödie unter Tage, weil die Sicherheitsvorkehrungen gegenüber den
Gewinnerwartungen sträflich vernachlässigt werden. Erst vor drei
Wochen hatte es Erdogans AKP im Parlament abgelehnt, die
Arbeitssicherheit in der jetzt vom Tod heimgesuchten Grube zu
überprüfen. Scharfer Privatisierungskurs verbunden mit Korruption,
dazu schwache Gewerkschaften und mangelnde Kontrolle bestehender
Gesetze und Auflagen machen die Türkei leider auch zum Land mit
vergleichsweise erschreckend vielen tödlichen Arbeitsunfällen.
Zynismus und zuvor Ignoranz gegenüber der Arbeitssicherheit haben
die Proteste aus dem Istanbuler Gezi-Park wieder entflammt. Wie
gefährlich sie für Erdogans Hoffnung werden, sich im Sommer zum
Staatspräsidenten wählen zu lassen, ist schwer vorhersehbar. Trotz
schwerwiegender Korruptionsvorwürfe und Einschränkungen der
Informationsfreiheit errang seine AKP bei den Kommunalwahlen im März
noch einen überragenden Sieg. Gegen ein Ende Erdogans spricht zudem,
dass die große Mehrheit der Türken vom Fatalismus geprägt ist. Nicht
etwa sie selbst oder ihre Politiker bestimmen ihr Schicksal, sondern
Gottes Wille. Auch in der Grube von Soma.
Sicher ist nur, dass Erdogan mit seiner Reaktion das Land weiter
gespalten hat. Eine Polarisierung, die auch der türkischen Community
in Deutschland droht. Einer der beiden neuen Vorsitzenden der
Türkischen Gemeinde in Deutschland, Safter Çinar, hat Erdogan bereits
gewarnt, bei seinem Besuch am 24. Mai in Köln „die unversöhnliche
Atmosphäre“ in der Türkei auf die Türken in Deutschland zu
übertragen. Dafür sei Çinar gedankt. Und Erdogan daran erinnert, was
sich für einen Gast bei alten Freunden geziemt.
Der Leitartikel im Internet: www.morgenpost.de/128065165
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