BERLINER MORGENPOST: Im Zweifel für die Menschlichkeit – Leitartikel

Es reicht nicht, Menschenschlächter wegzuwünschen.
Man muss sie zwingen, notfalls militärisch. Dass Gaddafi Buße tut und
ein Flugticket nach Den Haag bestellt, ist nicht zu erwarten. Die
„politische Lösung“, mit der ein ratloser deutscher Außenminister den
Nato-Gipfel nervte, gibt es nicht. Zuvor muss die internationale
Koalition kämpfen. Das ist schwerer als gedacht. Schwer, weil
Gaddafis Truppen über Hardware und Ausbildung verfügen, wie sie den
Aufständischen fehlen. Schwer auch, weil Gaddafi seine Panzer in
Wohnquartieren eben der Bevölkerung versteckt, die es zu schützen
gilt. Chirurgische Schläge, im Manöver perfekt, sind im Gewirr der
Städte nicht praktikabel. Schwer auch deshalb, weil im
UN-Sicherheitsrat die Vetomächte Russland und China – von Deutschland
zu schweigen – mahnen, dass das Mandat nicht mehr umfasst als
Verhinderung weiterer Massaker. Im Text ist das Ziel absichtsvoll
unklar umrissen, wie die zulässigen Mittel: Flugverbot ja, aber nicht
Okkupation. Dazwischen ist der Einsatz von Bodentruppen, sofern
humanitär begründet, gerade noch denkbar. Immer bleibt die Frage nach
dem Endspiel. Sie verlangt konstruktive Antwort, sofern man nicht die
Hoffnung darauf setzt, dass der starke Mann von Tripolis vom Teufel
geholt, von seinen Knechten umgebracht oder zur Demokratie bekehrt
wird. Nichts davon ist absehbar. Das Endspiel, das der Westen
öffentlich anbietet, ist für Gaddafi nicht attraktiv. Immer noch
hofft der Diktator, dass sich die Koalition gegen ihn zerlegt. Auch
kann er im Fernsehen studieren, was in Den Haag auf seinesgleichen
wartet. Wie aber dann mit Gaddafi verfahren, ohne seine Untaten unter
den Teppich des großen Vergessens zu kehren? Soll man ihm Wege ins
vergoldete Asyl eröffnen, zu Freund Chávez in Venezuela vielleicht
oder zum alten Waffenlieferanten Nordkorea? Die Reihe der Tyrannen,
die das eigene Volk „wie Ratten“ – so die Wortwahl des Gaddafi-Clans
– verfolgen, hat mit Milosevic nicht angefangen und wird mit Gaddafi
nicht enden. Umso notwendiger ist es, einen Modus zu entwickeln, der
dem humanitären Völkerrecht entspricht, zugleich aber Tyrannen einen
Ausweg eröffnet, bevor sie die Menschen fressen. Es muss denkbar
sein, liberalen Interventionismus und strategischen Pragmatismus zu
verbinden und zugleich via UN Allgemeinverbindlichkeit zu entwickeln.
Für freies Experiment ist die Welt zu zerbrechlich. Entsteht dadurch
Vollmacht zum Übeltun in der Gewissheit, dass am Ende eine Villa auf
sicherem Grund winkt, dass Strafverfahren in Den Haag nur die Unteren
treffen und nicht die Oberen, und dass die gehorteten Reichtümer den
Lebensabend verschönern? Das widerspricht dem Rechtsempfinden. Muss
man aber nicht dagegenhalten, was an Blutvergießen, Qual und
Vernichtung gegebenenfalls den Menschen am leidenden Ende zu ersparen
wäre? Es gibt keine abschließende Antwort. Es ist bitter, wenn
Verteidigung der Gerechtigkeit und Bewahrung der Menschlichkeit
gegeneinanderstehen. Vielleicht sind allgemeine Regeln nicht zu
finden. Oder, wenn doch, nicht durchsetzbar. In solchem tragischen
Konflikt gebührt der Menschlichkeit der Vorrang.

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