Er liest vor: kein Pathos, kein Timbre, keine
Begeisterungsflammen. Dabei macht er eigentlich auch alles richtig:
Er dankt seinen Gegnern, er dankt seinem Vorgänger, er dankt dessen
Gattin. Alles sehr korrekt. Abgesehen vom Holperstart in den Amtseid
– na ja, menschlich eben. Und so könnte man mit etwas gutem Willen
feststellen: Es geht eine gewisse Selbstverständlichkeit aus vom
neuen Mann am wichtigsten Rednerpult des Landes. Spannend ist die
nicht. Aber möglicherweise hilfreich? Eines muss man Christian Wulff
lassen: Die leicht anämische, einrückende Kraft der
Selbstverständlichkeit lässt ihn Dinge feststellen, die für viele
eben doch noch nicht immer ganz so selbstverständlich sind. „Weniger
danach fragen, wo jemand herkommt, als wo er hin will“, fordert der
Mann aus Niedersachsen, und Chancengleichheit in Deutschland für
jeden, „egal, ob er Yilmaz heißt oder Krause“. Das ist wahr und
schön, und jemand, der so was einfach mal vorliest im Deutschen
Bundestag, darf dann selbstverständlich auch fordern, dass bitte alle
Kinder Deutsch lernen sollen in unserem Land. Und sonst? Wenn Wulff
die Passage vom Geist der Demokratie vorliest, die
„Gemeinschaftsgefühl und Begeisterung“ brauche, dann fühlen sich
viele bestätigt, die Wulffs Gegenkandidaten Joachim Gauck, den Mann
des großen Wortes, den Charismatiker der Freiheit, als Schwergewicht
im schon jetzt durchschnittlich genug plätschernden Politikbetrieb
vermissen werden. Nun also Nüchternheit als Chance? Weniger
Theaterdonner kann auch den Blick auf die Inhalte freigeben: So
könnte man das sehen. Das, was Wulff uns sagt, wird dann allerdings
deutlich gewichtiger sein müssen, um den lauten, manchmal schrillen,
immer geschwätzigen Basislärm der Berliner Mediendemokratie zu
überbieten. Die Stimme allein, die Aura, der Auftritt von Christian
Wulff jedenfalls ist zum Überstrahlen bisher kaum geeignet. Und das
Beispiel Köhler zeigt, dass es eben nicht reicht, sich auf die
Autorität des Amtes zu verlassen. Das präsidiale Vakuum an der Spitze
des Staates will ausgefüllt werden. Die Kraft der Autorität einer
Biografie, einer Lebensleistung kann da helfen. Die Kraft eines
mitteilungs- und begeisterungsfähigen Intellekts wäre noch besser.
Mit Ersterem ist Wulff gar nicht erst angetreten. Er hat ordentlich
Politik gemacht, in der Partei, im Ministerpräsidentenamt in
Hannover. Letzteres aber muss er jetzt beweisen. Der Mann wird uns
wirklich was zu sagen haben müssen, damit man ihm auch zuhört. Über
das Charisma eines Staatsmannes entscheidet „eine aus Begeisterung
oder Not und Hoffnung geborene ganz persönliche Hingabe“ der
Menschen, sagt Max Weber. Nicht jeder Politiker löst in Deutschland
heute diese Begeisterung aus. Und wenn man ehrlich ist, ist das auch
nicht bei jedem nötig. Beim Amt des Bundespräsidenten wäre ein wenig
Begeisterung allerdings schon hilfreich.
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