BERLINER MORGENPOST: Schafft endlich die Sommerzeit ab / Ein Leitartikel von Hajo Schumacher

Dem jungen Berliner Partygänger, der am
Sonntagmorgen aus dem Klub stolpert, dürfte es egal sein, ob es elf,
zwölf oder ein Uhr mittags ist. Ältere Herrschaften dagegen, deren
Tagesrhythmus von halbwegs geregelter Erwerbsarbeit oder Schulzeiten
bestimmt ist, reagieren zum Teil allergisch auf die 60 Minuten, die
uns bei der Umstellung auf die Sommerzeit jedes Jahr gestohlen
werden.

Selbst wer nicht jede Trendallergie mitmacht, wird an diesem
Wochenende wieder von einem merkwürdigen Gefühl befallen: Wozu
Sommerzeit? Brauchen wir das wirklich? Wofür war das nochmal gut?
Energiewende? EU-Gesetz? Man weiß es nicht mehr so genau.

Chronobiologen wie Dr. Thomas Kantermann sehen die Zeitumstellung
höchst kritisch. Jeder Mensch hat seine eigene innere Uhr,
unverwechselbar wie der Fingerabdruck. Diese innere Uhr läuft nicht
unbedingt parallel zur Armbanduhr. Beide Uhrwerke müssen jeden Morgen
aufs Neue synchronisiert werden. Wie geht das? Durch Licht,
idealerweise Tageslicht. In den dunkleren Teilen Skandinaviens gibt
es Lichtduschen, die die erhöhte Depressionsrate im Winter senken
helfen sollen. Fehlt der inneren Uhr morgens der Hieb mit dem
Lichtschwert, springt unser Körper nicht rechtzeitig an; es droht die
Gefahr abendlicher Schlaflosigkeit. Gleichzeitig gilt auch: Wer sich
abends zu viel Licht gibt, übrigens auch das blaue vom
Computer-Bildschirm oder das diffuse des Fernsehers, kann seinen
Schlaf durcheinander bringen. Es geht dabei nicht nur um TV nach
Mitternacht, sondern um Licht nach Sonnenuntergang. In einigen
City-Kiezen von Berlin darf man getrost von Lichtverschmutzung reden,
weil es dort nicht mehr dunkel wird. Könnte es da einen Zusammenhang
mit Aufmerksamkeitsdefiziten bei Kindern und Erwachsenen geben?

Zeit-Forscher wie Kantermann sprechen vom sozialen Jetlag, also
einer dauernden Zeitverstellung der inneren Uhr, allein durch zu viel
Licht. In der Geschichte der Menschheit ist das elektrische Licht ein
relativ neues Phänomen, keine 100 Jahre in jedem Haushalt. Früher
wurde zu Bett gegangen, wenn es dunkel wurde, Kerzen waren teuer,
aufgestanden wurde mit dem Morgengrauen. Ein paar Minuten Veränderung
pro Tag, das war das Tempo, das der Körper mitgehen kann. Eine ganze
Stunde Umstellung dagegen bringt bei manchen Menschen die innere Uhr
zum Rotieren und den Schlaf durcheinander. Der soziale Jetlag wird
befeuert, bestimmt nicht bei allen, aber bei einigen.

Schlafmangel ist eine Volkskrankheit, abzulesen an 80 Prozent
aller Bürger, die einen Wecker brauchen. Von allein aufwachen, das
ist ein guter Indikator für ausreichend Erholung und natürliches
Funktionieren der Reflexe. Schlafmangel begünstigt
Stoffwechselprozesse, die zum Beispiel zu Übergewicht führen.
Studien, die Chronobiologe Kantermann zitiert, haben zudem gezeigt,
dass die Umstellung auf Sommerzeit signifikant das Risiko von
Unfällen am Arbeitsplatz, von Selbsttötungen, Schlaganfällen und
Herzinfarkten erhöht. Wahrscheinlich könnte man mit keiner Maßnahme
mehr für die Volksgesundheit tun als mit dem schlichten Abschaffen
der Sommerzeit.

Der Leitartikel im Internet: www.morgenpost.de/126280096

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