BERLINER MORGENPOST: Schulz muss führen – Kommentar von Tim Braune

Der erste Auftritt von Martin Schulz nach Abschluss
der Sondierungen mit der Union fand bezeichnenderweise hinter
verschlossenen Türen statt. Am Wochenende hatte man von Schulz
kraftvolle und leidenschaftliche Appelle an die eigene Partei
weitgehend vermisst.

Während die SPD-Gegner von Schwarz-Rot lautstark mobil machten und
die Debatte in ihrem – und für Schulz brandgefährlichen – Sinne
prägten, zog sich der Parteichef in seinen Heimatort Würselen bei
Aachen zurück. Der Vorsitzende überließ anderen die Arbeit, die
eigene Partei von der staatspolitischen Verantwortung einer erneuten
Koalition mit CDU und CSU zu überzeugen. Das lief eher schlecht als
recht.

Die SPD-Spitze sollte jetzt nicht den Fehler begehen, aus Angst
vor der Basis den Weg des geringsten Widerstandes zu suchen, sondern
selbstbewusst ihren Mitgliedern erklären, was man an Erfolgen
durchgesetzt hat. Das ist nämlich gar nicht wenig: Rückkehrrecht in
Vollzeit, Rechtsanspruch auf Ganztagsschule, die Sicherung des
Rentenniveaus und eine Grundrente, die viele Geringverdiener
zumindest ansatzweise besser vor Altersarmut schützen könnte. Eine
20-Prozent-Partei kann eben nicht erwarten, 100 Prozent ihres
Wahlprogramms umzusetzen.

Für Schulz geht es jetzt um alles oder nichts. Es war schon ein
Wunder, dass er das schlechteste SPD-Abschneiden bei einer
Bundestagswahl politisch überlebte. Noch ist nichts verloren. Bleiben
große Landesverbände wie NRW, Niedersachsen und Bayern mehrheitlich
auf Linie, kann Schulz den Parteitag, der am Sonntag grünes Licht für
Koalitionsverhandlungen geben muss, überstehen.

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