BERLINER MORGENPOST: Was im Leben zählt – jenseits der Politik – Leitartikel

Eine Meldung aus der Spitzenpolitik, die berührt:
SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier nimmt „eine Auszeit“, um
seiner schwer erkrankten Frau beizustehen. Nein, beizustehen ist zu
schwach – es ist nicht weniger als der Versuch, ihr Leben zu retten.
Steinmeier spendet seiner Frau eine Niere, die sie nach langjähriger
Nierenschwäche dringend braucht. Auf ein anonymes Spenderorgan zu
warten, würde zu lange dauern. Nur wer einen „Lebendspender“ findet,
wird sofort operiert. Wenn dieser höchst private Fall – der auch
privat bleiben soll – etwas lehrt, dann dies: Geht es hart auf hart,
ist es deine Familie, die dich hält, ja rettet – dein Mann, deine
Frau. Nicht deine Facebook-Freunde, nicht dein Urlaubsflirt, auch
nicht deine Kollegen. Diese Bedingungslosigkeit passt zu den
Steinmeiers. In der letzten, heißen Phase des Bundestagswahlkampfs
2009 gaben die beiden gemeinsame Interviews und machten als Paar eine
gute Figur. Sie, die Verwaltungsrichterin, äußerte sich klar – auch
über ihren Mann, sie wirkte realistisch und lockerte ihn auf. Dass
die Steinmeiers eine glückliche, eine lebendige Ehe führen, nahm man
ihnen ab. Sein kurzfristiger Rückzug aus der Politik, um ihr
beizustehen, passt dazu. Im Oktober, sagt Steinmeier, werde er von
seiner „Auszeit“ auf den Posten als Fraktionschef zurückkehren. Keine
Frage – dies ist eine neue Generation von Politikern. So etwas hat es
früher nicht gegeben: politische Auszeiten aus rein privaten Gründen.
Ein Zeichen setzte Franz Müntefering, der 2007 als Vizekanzler und
Bundesarbeitsminister zurücktrat, um das Sterben seiner Frau
Ankepetra zu begleiten. Er und nun Steinmeier – diese
Spitzenpolitiker machen deutlich: Wir haben ein Leben außerhalb der
Gremien, Ministerien, Parlamente, und dieses Leben ist uns genauso
wichtig. Lässt die Wirkung der Droge Politik nach? Vizekanzler,
Fraktionsvorsitzender, das sind nicht irgendwelche Jobs. Das sind die
Achttausender der Politik, wie Joschka Fischer einmal formulierte,
das ist dort, wo jeder Machtmensch hin will. Einmal dort oben
angelangt, liegt der Höhenrausch nie fern: Ohne mich läuft hier gar
nichts. Das Land braucht mich, ich kann jetzt nicht gehen. Egal, wie
hoch der Preis ist. So war es früher. Doch das scheint sich zu
ändern. Die „Es geht auch ohne Politik“-Stimmung wird stärker, das
haben auch die jüngsten Rücktritte gezeigt. „Politiker kommen und
gehen“, hat Roland Koch zu seinem Rückzug als hessischer
Ministerpräsident gesagt. Und Ole von Beust behauptet, irgendwann
habe sich ein Berufspolitiker eben verbraucht. Dann sei es Zeit zu
gehen. Viele junge Politiker treten heute gleich mit der Haltung an:
Wir machen das hier nur für ein paar Jahre. Danach kommt etwas
anderes. Für Frank-Walter Steinmeier kommt danach hoffentlich wieder
die Politik.

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