Nach dem EU-Gipfel mag sich der Eindruck 
einstellen, die Südländer – und allen voran die Italiener – hätten 
beim nächtlichen Poker in Brüssel einen Kantersieg gegen Deutschland 
eingefahren. Direkthilfen für Banken, einfacherer Zugang zum 
Rettungsschirm, Abschied vom bevorzugten Gläubigerstatus des ESM – 
das klingt gerade so, als habe sich der „Club Med“ auf ganzer Linie 
durchgesetzt.
   Diese Beurteilung ist freilich kurzsichtig – genau so wie 
Mahnrufe, Europa versinke endgültig in einer Schuldenunion, 
übertrieben sind. Zwei Überlegungen werden dabei ausgeblendet. 
Erstens sind längst nicht alle Wünsche des Südens erfüllt worden. So 
gibt es auch nach diesem EU-Gipfel keine Banklizenz für den ESM, 
keine an Zinsniveaus gekoppelte halbautomatischen Interventionen der 
EZB, keine gemeinsame Schuldenfinanzierung über Bonds oder Bills. 
Zweitens darf nicht übersehen werden, dass die hohen Risikoprämien 
italienischer und spanischer Anleihen nicht nur ein Problem für diese
Länder darstellen, sondern auch für die Euro-Partner. Kanzlerin 
Angela Merkel, Finnlands Regierungschef Jyrki Katainen, der 
niederländische Premier Mark Rutte – sie alle haben ein ureigenes 
Interesse daran, dass sich die Politik ernsthaft um Signale bemüht, 
die helfen, dass die Partner im Süden nicht mit rekordhohen Spreads 
in die Sommerpause gehen müssen. Hätte der Norden alle Bitten 
Italiens abgewiesen, wäre das Risiko gestiegen, dass die dortigen 
Reformkräfte geschwächt werden. Insofern passen die ach so beliebten 
plakativen Schlagzeilen von der wegknickenden oder überrumpelten 
Kanzlerin nicht wirklich.
   Aber: Es grenzt andererseits an bewusste Irreführung, wenn die 
Bundesregierung so tut, als sei sie ihrer Position treu und überhaupt
alles beim Alten geblieben. Denn das ist es nicht. Wenn in gar nicht 
mehr so ferner Zukunft beispielsweise italienische oder zyprische 
Banken direkte Hilfen des ESM erhalten, verlagert sich das 
Ausfallrisiko (und das dürfte bei diesen Instituten hoch sein) 
letztlich von der italienischen oder zyprischen Regierung auf den 
Schirm – kurzum auf die Steuerzahler in Deutschland, der Slowakei 
oder Österreich. Auch der Verzicht auf den Sondergläubiger-Status des
ESM bedeutet zusätzliches Risiko – zu Gunsten des Südens, zu Lasten 
aller anderen Euro-Partner.
   Es gibt in Zeiten gefährlich hoher Risikoprämien gewiss gute 
Gründe, diese Zugeständnisse zu machen. Die Bundesregierung sollte 
dann allerdings aufrichtig genug sein, zuzugeben, dass Italien in der
nächtlichen Partie in Brüssel etwas mehr erreicht hat als 
Deutschland.
(Börsen-Zeitung, 30.6.2012)
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