Börsen-Zeitung: Europäische Chaostage, Kommentar zum eskalierenden Nervenkrieg um die Bewältigung der europäischen Staatsschuldenkrise, von Bernd Wittkowski.

Zwei Jahre nach ihrem Beginn steuern die
europäische Staatsschuldenkrise und die Versuche ihrer Bewältigung
unübersehbar auf das Finale zu. Entweder geschieht in den nächsten
Tagen ein Wunder, oder es gibt den großen Knall. Etwas dazwischen ist
kaum noch denkbar. Die sich im Minutentakt von einem Extrem ins
andere drehende Nachrichtenlage – Paris und Berlin sind sich über
eine Hebelung des Euro-Rettungsfonds EFSF einig, sie sind sich nicht
einig, der EU-Gipfel wird erneut verschoben, er wird nicht
verschoben, es wird ein zusätzliches Treffen angesetzt – ist ein
sicheres Indiz dafür, dass der Nervenkrieg um eine für alle
Beteiligten und Betroffenen tragbare Lösung seine höchste
Eskalationsstufe erreicht hat.

Die europäischen Chaostage lassen sich nicht mehr lange
fortsetzen. Zumal sich die Lage in Griechenland nicht auf Nervenkrieg
beschränkt: Auf den Straßen und Plätzen Athens herrschen fast
bürgerkriegsähnliche Zustände, die mindestens ein weiteres Todesopfer
forderten.

Den großen Wurf, den Menschen und Märkte vom Gipfel der Staats-
und Regierungschefs geradezu herbeigesehnt hatten, kann man
inzwischen vergessen. Der Sonntag droht günstigstenfalls mit einem
Würfchen zu enden. Mehr spricht dafür, dass der Wurfversuch mit einem
gewaltigen Bumerangeffekt auf ganz Euroland zurückschlägt. Denn für
ihren zentralen Tagesordnungspunkt – die Steigerung der Schlagkraft
der EFSF – ist die Runde nicht beschlussfähig. Und weil es dazu trotz
der vorliegenden Leitlinien mehr Fragen als Antworten gibt, werden
Bundeskanzlerin Angela Merkel und Kollegen jedenfalls insoweit ohne
Mandat nach Brüssel reisen. Solange es aber keine Klarheit in Sachen
EFSF gibt, können die Gipfelteilnehmer auch bei anderen Punkten von
Bankenrettung bis hin zum Ansinnen, eine Änderung der EU-Verträge
voranzutreiben, nicht wirklich weiterkommen. Der Sonntagsgipfel
reduziert sich somit auf ein Kaffeekränzchen, das die nächste
Kredittranche für Griechenland abnicken darf.

Zu den wenigen guten Nachrichten in diesem Kontext gehört diese:
Der Rekapitalisierungsbedarf der europäischen Banken, vom IWF jüngst
auf 200 Mrd. Euro veranschlagt, pendelt sich bei knapp der Hälfte
davon ein und ist mit Blick auf die deutschen Institute fast
vernachlässigbar. Ihnen helfen die Kursgewinne der Bundesanleihen,
die den Korrekturbedarf auf das Exposure in der Euro-Peripherie
zumindest teilweise ausgleichen. Wie praktisch, dass die auf
angelsächsische Rechnungslegungsmethoden fixierten EU-Bankenaufseher
noch nichts vom Niederstwertprinzip gehört haben.

(Börsen-Zeitung, 21.10.2011)

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