Börsen-Zeitung: Gewöhnungseffekte, Börsenkommentar „Marktplatz von Christopher Kalbhenn

In bemerkenswert robuster Verfassung
präsentieren sich derzeit die Aktienmärkte. Der Dax ist am Freitag
erstmals seit Mitte Mai wieder über die Schwelle von 6250 geklettert,
wodurch ihn nur noch rund 85 Zähler vom Jahreshoch trennten. Zwar mag
der große Verfalltermin zu der Aufwärtsbewegung der zurückliegenden
Handelstage beigetragen haben. Maßgebliche Ursache ist jedoch die
abnehmende Angst vor einer Ausweitung der Schuldenkrise
Griechenlands. Andere Peripheriestaaten des Euroraums waren in der
Lage, sich Mittel am Kapitalmarkt zu beschaffen, wenn auch zu
erhöhten Kosten.

Hinzu kommen Gewöhnungseffekte. Die Marktteilnehmer leben nun
schon seit dem Herbst 2009 mit der Schuldenkrise und sind nicht mehr
so leicht zu erschrecken. So gaben Aktien und die
Gemeinschaftswährung nur geringfügig nach, nachdem auch Moody“s die
Bonitätsbewertung Griechenlands in den Ramschbereich herabgestuft
hatte. Vergleichsweise gelassen war auch die Reaktion auf in der
spanischen Presse kursierende Gerüchte, nach denen an einem
Rettungspaket für das iberische Land gearbeitet werde. Noch vor
Kurzem hätte dies nicht nur die Risikoaufschläge Spaniens in die Höhe
getrieben, sondern auch den Euro und die Aktienmärkte erheblich unter
Druck gesetzt.

Mit nachlassendem Einfluss der Schuldenkrise wird der Blick frei
für die entscheidenden fundamentalen Faktoren, und das eröffnet –
sofern neue Schocks durch die Schuldenkrise ausbleiben – Spielraum
für einen Angriff des Dax auf das Jahreshoch. Zwar wird sich das
Wachstum der Weltwirtschaft und damit der Unternehmensgewinne
verlangsamen, u.a. weil Ankurbelungsmaßnahmen und Lagereffekte
auslaufen und in den Schwellenländern eine restriktivere Linie
gefahren wird, um eine Überhitzung zu vermeiden. Damit bleibt es nach
jetzigem Stand aber dabei, dass sich die Erholung im kommenden Jahr
fortsetzen wird. Das werden auch die umfangreichen fiskalischen
Konsolidierungsmaßnahmen der westeuropäischen Staaten nicht
verhindern. Denn als weitere Folge der Krise werden die Notenbanken
ihre akkomodierende Politik über einen noch längeren Zeitraum
aufrecht erhalten, sodass das Niedrigzinsumfeld bis auf Weiteres
Bestand haben wird. Für den Euroraum und insbesondere die
exportorientierte deutsche Wirtschaft ergibt sich als weiterer Impuls
aus der Krise eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit durch den
gesunkenen Außenwert des Euro.

Der von manchen befürchtete Double-Dip, d.h. der Rückfall in die
Rezession, ist somit nur eine Spekulation, an deren Eintreffen
erhebliche Zweifel bestehen. Fakt ist dagegen die kräftige Erholung
der Unternehmensgewinne, und davon könnten in den kommenden Wochen
stützende Impulse für die Aktienmärkte ausgehen, wenn die
Berichtssaison zum zweiten Quartal beginnt.

Aber auch über die nächste Berichtssaison hinaus wird dies ein
stützender Faktor sein. Die Unternehmen haben die Krise zum Anlass
genommen, ihre Kosten deutlich zu senken. Damit hat sich ihre
Profitabilität stark erhöht, mit der Folge, dass sie selbst im Falle
einer unerwartet deutlichen Wachstumsabschwächung auch im nächsten
Jahr noch erkleckliche Gewinnzuwächse zeigen würden.

Das gilt gerade auch für die Dax-Unternehmen, obwohl das ohnehin
unterdurchschnittliche Wachstum Europas im kommenden Turnus durch die
Haushaltskonsolidierungsmaßnahmen zusätzlich abgeschwächt wird. Ein
Großteil der deutschen Blue-Chip-Unternehmen ist nur noch zu einem
geringen Teil vom Heimatmarkt abhängig, sondern erwirtschaftet den
weit überwiegenden Teil ihrer Erlöse und Ergebnisse im Ausland und
profitiert aufgrund seiner globalen Aufstellung vom höheren Wachstum
der außereuropäischen Regionen.

Gleichzeitig liegt das Kurs-Gewinn-Verhältnis des Dax auf Basis
der Konsens-Gewinnschätzungen für dieses und nächstes Jahr bei rund
10 bzw. 9. Bei derart niedrigen Bewertungen bestehen für den Index
noch Spielräume nach oben, und es ergeben sich bei Schwächephasen in
den kommenden Monaten günstige Einstiegsgelegenheiten.

(Börsen-Zeitung, 19.6.2010)

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