Börsen-Zeitung: Nun ist Stehvermögen gefragt, Börsenkommentar „Marktplatz“, von Thorsten Kramer.

China ist drauf und dran, Japan als zweitgrößte
Volkswirtschaft der Welt abzulösen. Das Nationale Statistikamt hat
vor dem Wochenende die Wachstumsrate für das Krisenjahr 2009 von 8,7%
auf 9,1% erhöht, und wenn die Volksrepublik es schafft, dieses Tempo
zu halten, dann wird sie den asiatischen Konkurrenten wahrscheinlich
schon 2010 überflügeln.

An den Finanzmärkten nehmen Handelsteilnehmer das mit großem
Interesse zur Kenntnis. Auf die Kurse nimmt die Entwicklung freilich
keinen Einfluss, denn die veröffentlichten Daten sind Beleg einer
sehr starken Entwicklung der jüngsten wirtschaftlichen Historie.
Aktuelle Indikatoren wie der Einkaufsmanagerindex für die Industrie
signalisieren hingegen, dass sich das Wachstum in China abkühlen
dürfte. Das Nationale Statistikamt selbst geht nach einem Wachstum
des Bruttoinlandsprodukts um 11,9% im ersten Quartal 2010 von einem
Rückgang der Wachstumsrate bis auf 8,2% im Schlussquartal aus.

Die Warnsignale haben bereits dazu geführt, dass der chinesische
Aktienmarkt seine vor Monaten begonnene Korrekturbewegung fortsetzt:
In Shanghai notiert die Börse auf dem niedrigsten Niveau seit dem
Frühjahr 2009. Sie sorgen aber vor allem dafür, dass sich Investoren
Gedanken über die Stabilität der globalen wirtschaftlichen Erholung
machen, weil China in den Zeiten der Krise die Konjunkturlokomotive
gewesen ist.

Zur Unzeit kommen da die negativen konjunkturellen Neuigkeiten aus
den USA. Waren es zunächst vor allem sehr enttäuschende Daten vom
Immobilienmarkt, blieben in der nun abgelaufenen Handelswoche sowohl
die Daten vom Arbeitsmarkt als auch der Einkaufsmanagerindex für das
verarbeitende Gewerbe hinter den Erwartungen zurück. Unter Anlegern
gewinnt deshalb das Schreckgespenst namens „Double Dip“ schon wieder
Konturen. Und selbst wenn Volkswirte und Marktanalysten immerzu
bekräftigen, dass sie ein solches Szenario für höchst
unwahrscheinlich halten, reicht es allemal für eine wachsende
Verunsicherung der Akteure.

Die Aktienkurse dies- und jenseits des Atlantiks geraten in diesem
Umfeld unter Druck, der Dax zum Beispiel fiel innerhalb einer Woche
um 3,9% und damit ähnlich kräftig wie zuletzt Mitte Mai. An den
Rohstoffmärkten sacken die Notierungen von Rohöl sowie Metallen wie
Kupfer ab, weil Anleger eine sinkende Nachfrage antizipieren.

Müssen sich Anleger also darauf einstellen, dass die Kurskorrektur
an Europas Aktienmärkten nun Tempo aufnimmt, obwohl die Schuldenkrise
im Euroraum nach der Beruhigung am Geldmarkt und erfolgreichen
Anleiheplatzierungen von Ländern wie Italien und Spanien einen Teil
ihres Schreckens verloren hat? Es spricht einiges dafür, dass solche
Ängste übertrieben sind, und zwar insbesondere in Deutschland, wo der
Export brummt – was bereits zu der von vielen Seiten beneideten
Entspannung am deutschen Arbeitsmarkt beiträgt. So bestätigten die
Statistiken der deutschen Automobilindustrie und des Maschinenbaus,
dass die schwere Krise abgehakt ist. Während der Maschinenbau nun an
die Bearbeitung des in Rekordtempo gestiegenen Auftragseingangs geht,
wachsen am Automarkt allerdings schon wieder die Risiken, weil der
Produktionsanstieg sehr stark von der hohen Nachfrage aus China und
Indien, aber auch aus einem besseren Absatz in den USA beeinflusst
wurde.

Wenn es den meisten Unternehmen im Zuge der Mitte Juli zunächst in
den Vereinigten Staaten anlaufenden Berichtssaison genauso wie in den
zurückliegenden Quartalen gelingt, die Erwartungen zu übertreffen und
den Ausblick zumindest zu bestätigen, wird das den Skeptikern die
Sorge über überzogene Gewinnprognosen nehmen. Dann ist ein neuer
Anstieg der Aktienkurse sehr wahrscheinlich. Gegebenenfalls startet
der Dax in dieser Marktphase einen neuen Anlauf, um das Jahreshoch
bei 6342 Punkten zu attackieren. Fällt diese Marke, eröffnete dies
dem Index aus charttechnischer Sicht weiteres Aufwärtspotenzial. Ob
es dann aber direkt dazu reicht, die Mitte der Woche veröffentlichte
Prognose von HSBC Asset Management zu erfüllen, ist eher
unwahrscheinlich. Die Strategen trauen dem Dax auf Sicht bis zum
Jahresende 7000 Punkte zu. Auf dem Weg dorthin dürften sich – nicht
zuletzt angesichts der steigenden Volatilität – für Optimisten noch
weitere Kaufgelegenheiten ergeben.

(Börsen-Zeitung, 3.7.2010)

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