Börsen-Zeitung: Panik im Eurotower, Kommentar zur überraschenden Leitzinssenkung der EZB, von Stephan Lorz

Die jüngsten Inflationsdaten aus dem Euroraum
müssen die Notenbanker im Eurotower regelrecht in Panik versetzt
haben. Im Oktober meldeten die Statistiker ein erneutes Absinken der
Jahresinflationsrate im Währungsraum. Diesmal wurde mit 0,7% sogar
die 1-Prozent- Schwelle unterschritten. Angst vor „japanischen
Verhältnissen“ machte sich breit – eine Periode immer weiter
zurückgehender Inflation, welche die Konsum- und
Investitionsbereitschaft sukzessive dämpft und in eine Phase
wirtschaftlicher Depression und Deflation mündet. Auch wenn EZB-Chef
Mario Draghi derlei Vergleiche von sich weist und lieber von einer
„längeren Phase niedriger Inflationsraten“ spricht, die
Deflationsangst ist spürbar.

Um über die nächsten Wochen nicht noch weitere Ängste aufkommen zu
lassen und wegen der Marktreaktionen nicht unter Handlungszwang zu
geraten, entschied eine Mehrheit im EZB-Rat, mit der Zinssenkung auf
0,25% schon jetzt ein Zeichen gegen deflatorische Prozesse zu setzen.
Die Marktteilnehmer waren überrascht, war es doch bisher üblich,
zunächst weitere Daten abzuwarten, statt sich von einem bestimmten
Monatswert – womöglich einem Ausrutscher – leiten zu lassen.

Die Zinssenkung dürfte nicht dazu beitragen, die Probleme im
Währungsraum zu lösen. Denn nach wie vor ist der Transmissionskanal
der Geldpolitik verstopft. Die Unternehmen in den Krisenländern
kommen nicht wegen zu hoher Zinsen nicht an Kredite, sondern weil
ihre Zukunftsaussichten eher düster sind und die kreditgebenden
Banken mit eigenen Problemen zu kämpfen haben. Insofern ist die
Zinssenkung nur als „Signal“ zu verstehen, weshalb Draghi ja
ergänzend noch auf die unorthodoxen Pfeile im Köcher der Geldpolitik
verwiesen hat.

Und in den gesunden Bereichen der Euro-Wirtschaft wirkt das
Zinssignal in die falsche Richtung: Durch das Billiggeld steigt die
Gefahr von neuen Kreditblasen, von Fehlsteuerungen in den
Volkswirtschaften durch verzerrte Anreizstrukturen ganz zu schweigen.
Statt die jüngsten konjunkturellen Hoffnungszeichen in der Eurozone
zur Kenntnis zu nehmen und die Entwicklung zunächst abzuwarten, kann
die Überreaktion jetzt sogar dazu beitragen, dass Investoren und
Konsumenten ihre Entscheidungen erst recht weiter hinauszögern.
Insofern könnte Draghi mit dem jedenfalls zu diesem Zeitpunkt nicht
zu erwartenden Zinsschritt gerade jene sich selbst erfüllende
Prophezeiung erst heraufbeschworen haben, deren Eintreten er damit
eigentlich hatte vermeiden wollen.

(Börsen-Zeitung, 8.11.2013)

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