Die Statistik-Fans unter den Aktieninvestoren
müssen sich beeilen. Denn es bleibt ihnen nur noch etwas mehr als
eine Woche Zeit, um sich, getreu der Devise „Sell in May and go
away“, von ihren Beständen zu trennen. Man muss allerdings nicht
unbedingt den statistisch belegten Saisoneffekt bemühen, um sich
auszurechnen, dass der Aktienmarkt in den nächsten Wochen zumindest
keine größeren Geländegewinne machen wird. Neben der sich anbahnenden
Sommer-Lethargie spricht nicht zuletzt die Tatsache dagegen, dass der
Markt eine sehr starke Entwicklung gezeigt hat. Seit dem Tief vom
März 2009 hat der Dax um bis zu rund 110% zugelegt. Damit erlebt der
deutsche Aktienmarkt eine seiner bislang stärksten Haussen.
Zudem hat der Aktienmarkt derzeit mit einem ganzen Strauß an
Belastungsfaktoren zu kämpfen, die in nächster Zeit für Irritationen
sorgen und den Index drücken könnten. Dazu zählt nicht zuletzt das
Schuldendebakel in der Peripherie des Euroraums, in dem sich mit
Griechenland – alle Versuche, die Lage schöner darzustellen, als sie
ist, können nicht darüber hinwegtäuschen – die erste Staatspleite
anbahnt. Nicht besser wird die Lage dadurch, dass Europa nicht allein
gelassen wird, sondern in puncto unsolider Staatsfinanzen jenseits
des Atlantiks einen würdigen Partner findet. Die USA haben die
zulässige Verschuldungsobergrenze überschritten und können den
Ausfall nur dank Ausnahmen und Notlösungen noch ein paar Wochen
hinausschieben.
Zwar werden sich Republikaner und Regierung sehr wahrscheinlich
noch auf eine Limit-Anhebung einigen. Bis Anfang August haben sie
dafür Zeit, und keine der beiden Seiten wird am Ende als der
Schuldige eines Finanzdesasters am Pranger stehen wollen. Aus Sicht
der Aktienmärkte ist jedoch entscheidend, dass das Thema in den
nächsten Wochen für erhebliche Irritationen sorgen kann. Das Gleiche
gilt für das Ende der Staatsanleihekäufe. Ende Juni läuft QE2, das
Anleihenkaufprogramm der US-Notenbank Fed, aus. Zwar wird die Fed die
Mittel, die bei Fälligkeit von Anleihen ihres Bestands frei werden,
am Bondmarkt reinvestieren. Insgesamt wird sie jedoch als sehr großer
Nachfrager am Treasury-Markt wegfallen. Damit gehen Befürchtungen
einher, dass die Renditen am Staatsanleihenmarkt deutlich anziehen
werden.
Steigende Inflationsraten, anziehende Rohstoffpreise, der
restriktivere geldpolitische Kurs in den großen Schwellenländern und
die in den Industrienationen zaghaft beginnende monetäre Wende
verstärken den Eindruck, dass die Aktienmärkte und andere
Risiko-Assets vor unruhigeren Zeiten stehen könnten. Der heftige
Einbruch der Rohstoffmärkte ist möglicherweise eine Art Vorbote.
Mehr als eine vorübergehende Pause der Rally bzw. Korrektur
zeichnet sich aber nicht ab. Vielmehr sprechen die nüchternen Fakten
immer noch dafür, dass das Potenzial des Aktienmarktes eindeutig
aufwärts gerichtet ist. Auch in den kommenden Wochen wird der Markt
Irritationen letztlich überwinden, so wie er das z.B. nach der
Erdbebenkatastrophe getan hat. Die fundamentale Basis der Rally ist
nämlich intakt. Nach wie vor steigen die Unternehmensgewinne deutlich
und übertreffen die Erwartungen. Dabei sind die Bewertungen niedrig.
Auf Basis der Konsensschätzungen für das nächste Jahr liegt das
Kurs-Gewinn-Verhältnis des Dax sogar im einstelligen Bereich. Hinzu
kommen die anhaltend üppige Liquidität und der Mangel an
Anlagealternativen.
Da ein baldiges Ende dieses konstruktiven Umfelds derzeit nicht
abzusehen ist, spricht vieles dafür, dass der Dax im Verlauf der
zweiten Jahreshälfte deutlicher über 7500 steigt und die Schwelle von
8000 Punkten anpeilen wird. Auch ein Anstieg über den bisherigen
Rekord von 8152 Zählern vom Juli 2007 ist vor diesem Hintergrund eine
absolut realistische Perspektive. Das sollte allerdings nicht dazu
verführen, die rosa Brille aufzusetzen. Vielmehr müssen solche
Markthöhen dann kritisch überprüft werden. Die Kurse werden eine
extrem gute Unternehmensgewinnentwicklung und möglicherweise auch ein
höheres Bewertungsniveau enthalten. Unter solchen Umständen haben
sich in der Vergangenheit – wie rückblickend erkennbar ist –
attraktive Gelegenheiten zum Verkauf von Aktienpositionen ergeben.
Die besten Kaufgelegenheiten werden durch den nächsten Schub
jedenfalls nicht geschaffen. Das geschah vielmehr vor mehr als zwei
Jahren, als die Angst vor dem Zusammenbruch des Finanzsystems und der
Weltwirtschaft den Dax bis auf Tiefen von rund 3600 Punkten drückte.
(Börsen-Zeitung, 21.5.2011)
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