Börsen-Zeitung: Vom Sturm zum Orkan, Börsenkommentar „Marktplatz“ von Christopher Kalbhenn

Von einem vorübergehenden Sommergewitter spricht
mittlerweile keiner mehr. Was sich an den Finanzmärkten abspielt, ist
längst ein Sturm geworden, vielleicht sogar ein schwerer Sturm. Ein
Blick durch die Schlagzeilen der Medien und die Studien der
Banken-Analyseabteilungen genügt, um den Ernst der Lage zu erkennen:
„Fear and panic in the markets“, „Philly Fed Index stürzt ab“, „USA
am Rande der Rezession“, „Schwarzer Tag für den Dax“. Die bis Ende
Juli vorherrschende, angesichts der Schuldenkrise und der bereits
seit einiger Zeit abwärts tendierenden Frühindikatoren verwunderliche
Gelassenheit der Akteure an den Aktienmärkten ist völlig verflogen.

Die schiere Angst der Marktteilnehmer wird von vielen Indikatoren
belegt. So hat die Flucht in Sicherheit die Rendite der zehnjährigen
US-Staatsanleihe erstmals seit 1945 unter die Schwelle von 2% fallen
lassen, die Verzinsung der deutschen Staatstitel ist auf ein
Rekordtief von 2,03% gesunken und der Goldpreis eilt von Rekord zu
Rekord. Bis 2000 Dollar fehlten der Feinunze Gold am Freitag noch
6,6%, und Experten, die das baldige Erreichen der Schwelle
voraussagen, stoßen schon lange auf keinen Widerspruch mehr. In
freiem Fall dagegen Risiko-Assets: Der Dax hat mit einem Tagesverlust
von bis zu 7% den heftigsten Absturz seit dem Lehman-Crash erlebt,
die Preise für konjunktursensible Rohstoffe wie Öl brechen unter dem
Eindruck der sich verstärkenden Rezessionsängste ebenfalls ein.

Von Übertreibung zu sprechen ist angesichts dieser Extreme und der
Heftigkeit der Kursschwankungen sicherlich richtig, wird aber den
Marktteilnehmern nicht ganz gerecht. Schließlich ist ihnen sehr viel,
d.h. zu viel auf einmal zugemutet worden. Erstens hat sich der
Eindruck verstärkt, dass sich zum einen die Schuldenkrise auf eine
den Fortbestand der Währungsunion gefährdende Weise verschärft und
zum anderen die politische Führung Europas überfordert ist.

Hinzu kommt zweitens die Befürchtung, dass die Weltwirtschaft
nicht nur eine normale Wachstumsabschwächung nach dem starken
Aufschwung, einen sogenannten Soft Patch, erlebt, sondern ihr der
Rückfall in die Rezession, der sogenannte Double Dip, bevorsteht.
Wichtige US-Konjunkturindizes für die verarbeitenden Branchen haben
kritische Niveaus erreicht, und die verstärkten
Haushaltskonsolidierungsmaßnahmen schüren die Befürchtungen über eine
deutlich nachlassende Nachfrage. Drittens sorgen zunehmende Anzeichen
einer erschwerten Refinanzierung im Bankensystem für erhebliche
Nervosität. Hinweise auf eine bevorstehende Rezession und einen
eventuellen Stillstand des Interbankenmarkts? Das erinnert die
Marktteilnehmer auf fatale Weise an das Lehman-Desaster. Die
Empfindlichkeit, mit der sie auf entsprechende Nachrichten und
Gerüchte reagieren, hat auch damit zu tun, dass die erschütternde
Absturzerfahrung vom Sommer und Herbst 2008 noch in frischer
Erinnerung ist.

Kein Wunder, dass in einem solchen von der Psychologie dominierten
Umfeld sachliche Argumentation kaum Gehör findet. Dass die
Unternehmen wesentlich robuster und profitabler sind als vor drei
Jahren, bremst die Talfahrt an den Börsen ebenso wenig wie die
Bewertungen, die so niedrig sind, dass Aktien, gemessen am Dax,
mittlerweile auch dann günstig bewertet wären, wenn für das nächste
Jahr kein Wachstum mehr, sondern eine Stagnation der Gewinne
unterstellt würde.

Diese Konstellation ist potenziell sehr gefährlich. Denn nicht nur
die Finanzmärkte werden stark von der Psychologie beeinflusst,
sondern auch die Realwirtschaft. Wenn der Kurssturz an den Börsen
nicht bald ein Ende findet, drohen negative Rückkopplungen in der
Wirtschaft. Der Absturz des auf Umfragen bei den Unternehmen
basierenden regionalen Konjunkturindex der Philadelphia Fed, der die
Marktteilnehmer so stark erschreckt hat, dürfte zu einem guten Teil
auf die Marktturbulenzen zurückzuführen sein. Es wird daher sehr
interessant sein, ob auch das am Mittwoch zur Veröffentlichung
anstehende Ifo-Geschäftsklima solche Spuren der Verunsicherung in der
Wirtschaft aufzeigt.

Kommen die Finanzmärkte nicht zur Ruhe, könnte sich eine Spirale
entwickeln mit der Folge, dass anstelle der derzeit von den Experten
noch unterstellten deutlichen Wachstumsabschwächung doch eine
Rezession kommt. Wenn das geschieht bzw. von immer mehr Indikatoren
angezeigt wird, wird aus dem Sturm ein Orkan.

(Börsen-Zeitung, 20.8.2011)

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