Großbaustelle Bildungssystem / JAKO-O Bildungsstudie zeigt: Beim Thema Schule sind noch viele Hausaufgaben zu machen (FOTO)

Auch wenn sich die Schulen in Deutschland aus Sicht der Eltern in
vielen Bereichen positiv entwickeln, gibt es im Bildungssystem immer
noch einige Großbaustellen, die dringend angegangen werden müssen. In
der aktuellen JAKO-O Bildungsstudie geben die Eltern der
Bildungspolitik entsprechend nur die Note 3,3: Luft nach oben für die
16 Kultusministerien der Länder. Aber auch für die neue
Bundesregierung, die – wie im Koalitionsvertrag festgehalten – die
Rechtsgrundlage für direkte Investitionen des Bundes in die kommunale
Bildungsinfrastruktur schaffen will. Die JAKO-O Bildungsstudie zeigt:
Vor allem bei den Themen Ganztagsschule, Inklusion, dem längeren
gemeinsamen Lernen, der individuellen Förderung und zeitgemäßen
Lerninhalten sehen Eltern teils erheblichen Nachholbedarf. Für die
repräsentative Studie wurden bundesweit 2.000 Eltern schulpflichtiger
Kinder im Alter bis zu 16 Jahren von den Meinungsforschungsinstituten
Mentefactum und Kantar Emnid befragt.

Baustelle 1: Ganztagsschulen für alle

Mit 72 % wünschen sich fast drei Viertel der in der 4. JAKO-O
Bildungsstudie befragten Eltern eine Ganztagsschule für ihr Kind.
Tatsächlich einen Ganztagsschulplatz haben von ihnen derzeit jedoch
nur 47 % (zum Vergleich 2014: 39 %). „Hier zeigt sich eine deutliche
Diskrepanz zwischen Elternwunsch und Realität“, sagt der
Bildungsforscher Prof. em. Dr. Klaus-Jürgen Tillmann von der
Universität Bielefeld.

Im Gegensatz zu anderen Ländern waren Halbtagsschulen in
Deutschland lange Zeit Normalität. Als Reaktion auf den „PISA-Schock“
wurde das Angebot an Ganztagsschulen seit dem Jahr 2002 kräftig
ausgebaut. Das Ziel: Die Bildung, die Vereinbarkeit von Familie und
Beruf sowie die Chancengleichheit in Deutschland zu verbessern. Die
amtliche Statistik der Kultusministerkonferenz (KMK) zeigt, dass 2015
insgesamt 64 % aller allgemeinbildenden Schulen in Deutschland
Ganztagsschulplätze anbieten. Die neue Bundesregierung verspricht
nun, allen Grundschülern einen Rechtsanspruch auf eine
Ganztagsbetreuung einzuräumen. Allerdings nicht in dieser
Legislaturperiode, sondern erst ab 2025.

„Mit dem quantitativen Ausbau allein ist es allerdings noch nicht
getan“, so Tillmann, der auch Vorsitzender des wissenschaftlichen
Beirats des Kooperationsprojekts „Studie zur Entwicklung von
Ganztagsschulen (StEG)“ ist. Eltern mahnen ebenso wie
Bildungsexperten eine qualitative Verbesserung an. So sehen 37 % der
Eltern bei den gegenwärtigen Ganztagsschulen Verbesserungsbedarf bei
der individuellen Förderung. Jeweils 25 % sind unzufrieden mit der
Hausaufgabenbetreuung, den Gesprächen zwischen Eltern und Pädagogen
oder der Verknüpfung von Unterricht und außerunterrichtlichen
Angeboten.

Baustelle 2: Inklusion erfolgreich umsetzen

Der gemeinsame Unterricht von Kindern mit und ohne
Beeinträchtigungen wird in allen Bundesländern vorangetrieben. Die 4.
JAKO-O Bildungsstudie zeigt, dass die Inklusion bei den Eltern
mehrheitlich auf Zustimmung stößt – entscheidend ist dabei allerdings
die Art der Beeinträchtigung.

Nach Angaben der Eltern wird Inklusion mittlerweile an 38 % der
deutschen Schulen gelebt. Den überwiegenden Teil der Inklusionsarbeit
leisten dabei Gesamtschulen mit 58 %. Realschulen kommen beim
gemeinsamen Unterricht lediglich auf 29 %. Gemeinsames Lernen mit
körperlich beeinträchtigten Kindern befürworten neun von zehn Eltern
(89 %, 2012: auch 89 %). Bei Kindern mit Lernschwierigkeiten sind 71
% der Eltern für inklusives Lernen (2012: 72 %), bei
verhaltensauffälligen Kindern 49 % (2012: 46 %), bei geistig
behinderten Kindern 41 % (2012: 46 %). Für Bildungsexperten ein
klares Zeichen: „Schulbehörden und Schulen sind aufgefordert, im
Dialog mit den Eltern Widerstände und Ängste zu thematisieren und
weitere Überzeugungsarbeit zu leisten“, sagt Prof. Dr. Dagmar Killus
von der Universität Hamburg.

21 % der befragten Eltern geben an, dass ihr eigenes Kind eine
Inklusionsklasse besucht. Jeweils 64 % von ihnen berichten von
zusätzlichem pädagogischem Personal in den Klassen und fühlen sich
über die pädagogischen Konzepte hinreichend informiert. 60 % sind der
Ansicht, dass der gemeinsame Unterricht den verschiedenen
Lernvoraussetzungen der Schüler Rechnung trägt. „Diese Ergebnisse
sind positiver als erwartet, lassen aber gleichzeitig auch weiteren
Entwicklungsbedarf erkennen“, sagt Killus.

Eine Umfrage des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) unter 2.050
Lehrerinnen und Lehrern an allgemeinbildenden Schulen aus dem
Frühjahr 2017 verdeutlicht dies: Die Hälfte der Befragten befürwortet
zwar den gemeinsamen Unterricht, stellt der Inklusion in ihrer
derzeitigen Form aber ein vernichtendes Zeugnis aus. Bemängelt werden
vor allem die ungenügende materielle und finanzielle Ausstattung
sowie die ungenügende Vorbereitung der Lehrer auf die neuen
Herausforderungen. Viele Lehrer an Regelschulen fühlen sich mit den
Inklusionsschülern alleine gelassen. Fast 80 % beklagen, dass es an
ihrer Schule keine Unterstützung bei physischen und psychischen
Belastungen gebe. 20 % sind der Ansicht, dass Regelschulen den
erhöhten Förderbedarf von Inklusionskindern nicht leisten können.

Damit Inklusion wirklich funktioniert, fordern Bildungsexperten
eine bessere Vorbereitung der Lehrkräfte durch Aus- und
Weiterbildung, kleinere Klassen, multiprofessionelle Teams aus
Lehrkräften und Erziehern sowie eine durchgehende Doppelbesetzung mit
einem Lehrer und einem Sonderpädagogen.

Baustelle 3: Längeres gemeinsames Lernen

Was die PISA-Siegerländer Finnland, Kanada und Japan von
Deutschland unterscheidet? Unter anderem das längere gemeinsame
Lernen aller Kinder. Frühestens nach der 8. Klasse werden die Kinder
dort leistungsmäßig auf verschiedene Schulformen aufgeteilt. In
Deutschland ist das in 14 Bundesländern bereits nach der 4. Klasse
der Fall.

Für die Kinder bedeute dieser frühe Übergang von der Grund- in die
weiterführende Schule oft eine hohe soziale und psychische Belastung,
warnen Bildungsforscher. Außerdem wirkt es sich negativ auf die
Chancengleichheit aus. „Ein hierarchisch gegliedertes Schulsystem ist
immer auch ein Instrument der sozialen Auslese“, sagt Tillmann. „Je
früher die Aufteilung stattfindet, desto stärker greift die
Benachteiligung, da der Grundschule weniger Zeit bleibt, um
herkunftsbedingte Bildungsnachteile auszugleichen.“

Viele Experten sehen ein gemeinsames Lernen bis zur Klasse 10 als
sinnvoll an. Und auch die Eltern in Deutschland sprechen sich klar
dafür aus, möglichst lange zusammen zu lernen. Laut der 4. JAKO-O
Bildungsstudie sind 54 % dafür, dass die Kinder erst nach der 6.
Klasse auf verschiedene Schulformen aufgeteilt werden (2010: 58 %).
13 % wollen den Übergang in die Sekundarstufe sogar erst nach der 9.
Klasse (2010: 15 %). Für eine Trennung nach der 4. Klasse sind 31 %
der Befragten (2010: 26 %). „Die Wünsche der Eltern stehen damit im
klaren Widerspruch zur derzeitigen Praxis in den meisten
Bundesländern“, betont Tillmann.

Baustelle 4: Heterogenität besser begegnen

Nicht nur bei den notwendigen qualitativen Verbesserungen der
Ganztagsschulen mahnen die Eltern eine bessere individuelle Förderung
der Schüler an. Auch bei der insgesamt sehr positiven Bewertung der
Lehrkräfte durch die befragten Eltern wird deutlich: Gerade die
beruflichen Kompetenzen, die für einen angemessenen und produktiven
Umgang mit Heterogenität unerlässlich sind, schätzen die Eltern im
Vergleich am schlechtesten ein. Nur 56 % meinen, dass die Lehrkräfte
moderne Unterrichtsmethoden einsetzen. Jeweils knapp über 60 % geben
an, dass die Lehrkräfte leistungsschwächere Schüler ausreichen
fördern (62 %) und mit unterschiedlichen sprachlichen Voraussetzungen
gut umgehen (63 %). Die Absprache zwischen den Kollegen halten 64 %
der Eltern für gut. „Obwohl die Heterogenität der Schülerschaft
insgesamt zunimmt, gelingt es in der Wahrnehmung der Eltern den
Lehrkräften offenbar noch nicht immer hinreichend, darauf didaktisch
zu reagieren“, sagt Killus.

Baustelle 5: Lehrpläne modernisieren

Schule soll Kinder fit für ihre Zukunft machen und sie auf das
Arbeitsleben vorbereiten. Klar ist: Die (Arbeits-)Welt verändert sich
rasant. Das Schulsystem muss sich auf diese Veränderungen einstellen.
Aus Elternsicht wäre es schon ein großer Schritt in die richtige
Richtung, wenn die Lehrpläne stärker der Lebenswirklichkeit
angeglichen würden. Vermisst werden praktische Inhalte, etwa zur
Verbraucherbildung. 59 % der befragten Eltern gaben in der 4. JAKO-O
Bildungsstudie an, dass der Bereich „wirtschaftliches Denken und
Handeln“ in der Schule zu kurz kommt. Als weitere vernachlässigte
Bereiche sehen Eltern „Ernährung und Gesundheit“ (48 %), „Computer-
und Internetkenntnisse“ (41 %) und „Berufsorientierung“ (31 %) an.

Aus Sicht vieler Experten reicht die Veränderung der Lehrpläne
jedoch bei weitem nicht aus. Sie fordern einen radikalen Umbau des
Bildungssystems und sehen zum Beispiel Schulfächer als überholt an.
Ein Vorbild könnte hier PISA-Spitzenreiter Finnland sein: Statt
Fächern soll es hier bis zum Jahr 2020 nur noch Themen geben, die aus
verschiedenen Perspektiven behandelt werden. Konkret bedeutet das,
dass zum Beispiel beim Thema Klimawandel die Kosten berechnet werden,
auf Englisch über den Klimawandel debattiert wird und in Geografie
auf der Landkarte nachgeforscht wird. Die Lerninhalte lassen sich so
wesentlich aktueller und flexibler gestalten als im herkömmlichen
System. Zudem findet eine Vernetzung quer durch die verschiedenen
Bereiche statt – Schüler können so komplexe Zusammenhänge leichter
erkennen.

Studiensteckbrief: Für die repräsentative Studie befragten die
Meinungsforschungsinstitute Mentefactum und Kantar Emnid im Januar
und Februar 2017 im Auftrag von JAKO-O bundesweit telefonisch 2.000
Eltern mit schulpflichtigen Kindern bis zu 16 Jahre.

Vergleichsstudien: 1. JAKO-O Bildungsstudie (2010), 2. JAKO-O
Bildungsstudie (2012), 3. JAKO-O Bildungsstudie (2014).

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