Großes Jubiläum: 100 Jahre Mercedes-Benz Werk Gaggenau

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– Mehrheitseigner Benz & Cie. firmiert 1911 die Süddeutsche Automobilfabrik in „Benz Werke Gaggenau“ um
– Konzentration der Lkw-Produktion in Gaggenau
– Der Unimog beginnt hier 1951 seinen weltweiten Siegeszug
– Mercedes-Benz Werk Gaggenau liefert heute im Daimler-Konzern alle Schaltgetriebe
Das Mercedes-Benz Werk Gaggenau vereint im Automobilbau Tradition und Moderne. 100 Jahre nach „Gründung“ der Benz Werke Gaggenau ist der Standort gut für die Zukunft gerüstet: Das Werk Gaggenau wird weiter zum Komponentenzentrum für mechanische und automatische Schaltgetriebe im Daimler-Konzern ausgebaut. Aufgrund der zukünftig verstärkten internationalen Ausrichtung der Getriebeproduktion für Brasilien, Japan, Südafrika, China und Indien wird das Werk auch die Rolle des weltweiten Anlauf- und Vorbereitungszentrums auf diesem Gebiet übernehmen.
2010 entstanden am Standort über 440.000 Getriebe für Pkw und Nutzfahrzeuge, 63.000 Spezialachsen für Baustellen- und Sonderfahrzeuge und über 1,15 Millionen Drehmomentwandler für Pkw.
Werk Gaggenau liefert alle Schaltgetriebe
Im vergangenen Jahr starteten einige Serienanläufe, darunter die neue Wandlergeneration „FE“ (Fuel Economy), die bis zu drei Prozent Kraftstoff einspart. Im Werkteil Rastatt begann die Serienfertigung des Transporterschalt-getriebes „TSG 480-48“, des schweren Getriebes „G280-16“ und des so genannten „Neue Schaltgetriebes“, kurz NSG. Mit dem NSG-Serienanlauf kommen nun alle Schaltgetriebe im Daimler-Konzern aus Gaggenauer Hand. Im Werkteil Kuppenheim wird der Produktionsbeginn für das neue Presswerk in diesem Frühjahr stattfinden. Eine Pressenstraße, drei Einzelpressen sowie 23 Schweißanlagen werden hier Außenhaut- und Struktur-Teile für die Lkw-Montage im Werk Wörth und für die Pkw-Montage im Werk Rastatt produzieren.
Aus der „Süddeutschen Automobilfabrik“ werden die „Benz Werke Gaggenau“
Begonnen hat alles mit einer Kooperation sowie einer Mehrheitsbeteiligung der „Benz & Cie. Rheinische Gasmotorenfabrik“ in Mannheim an der „Süddeutschen Automobilfabrik Gaggenau (SAG)“ in Gaggenau im Jahr 1907. Die beiden Unternehmen schlossen einen Interessenvertrag: Gaggenau stellte die Produktion von Personenwagen ein und das Werk konzentrierte sich vollkommen auf Nutzfahrzeuge. Benz konnte sich im Gegenzug auf den Pkw-Bau fokussieren.
Vier Jahre später, vor 100 Jahren, wurde die SAG vom Mehrheitseigner in die „Benz-Werke Gaggenau G.m.b.H.“ umfirmiert. Schon damals gehörte das heutige Mercedes-Benz Werk zu den wenigen Nutzfahrzeugzentren in Deutschland. Beispielsweise stammt die erste motorisierte Feuerlöschspritze für Berlin im Jahr 1907 aus Gaggenau. Später folgte ein komplettes Nutzfahrzeug-Programm von leichten Waren-Lieferwagen über schwere Lkw für sechs Tonnen Nutzlast bis zu Omnibussen. Ab 1. Januar 1911 trugen diese Fahrzeuge den Schriftzug „Benz“ auf der Kühlerhaube. Der 10. September 1923 markierte ebenfalls ein wichtiges Ereignis: An diesem Tag startete vom Benz-Werk Gaggenau der erste Diesel-Lkw der Welt zu einer Versuchsfahrt. Dabei ergaben sich 25 Prozent weniger Kraft-stoffverbrauch als mit Benzol-Motoren, wie die Ingenieure damals zufrieden notierten.
1926 konzentriert sich in Gaggenau der Lkw-Bau
Nach der Fusion von Benz & Cie. mit der Daimler-Motoren-Gesellschaft im Jahr 1926 übernahm Gaggenau die zentrale Rolle beim Nutzfahrzeugbau der neuen Daimler-Benz AG: Alle Lkw sowie sämtliche Busfahrgestelle werden vom Werk Gaggenau geliefert. Und als sich die ab 1929 ausbreitende Weltwirtschaftskrise und der damit verbundene tiefe Einbruch überstanden waren, sah sich die Daimler-Benz AG aufgrund der steigenden Auftragslage ab 1933 gezwungen, die Nutzfahrzeugproduktion erneut auf mehrere Werke zu verteilen. Kleinere Lkw bis drei Tonnen Nutzlast wanderten nach Mannheim ab, um die Omnibusaufbauten kümmerten sich Mannheim und Sindelfingen.
Während der Kriegsjahre zählten zum Produktionsumfang des Werkes Gaggenau vor allem Lastkraftwagen sowie die Reparatur von Militärfahrzeugen und Motoren. 1944 wurde das Werk durch zwei Luftangriffe nahezu vollständig zerstört. Rund 80 Prozent des Maschinenparks konnte nicht mehr eingesetzt werden, so dass die Produktion fast vollständig zum Erliegen kam.
Produktions-Neustart bereits Ende 1945
Nach Kriegsende konnte durch die intensiven Wiederaufbau-Arbeiten der Belegschaft schon Ende 1945 wieder der erste Lkw vom Werksgelände rollen. Vier Jahre lang dominierte der standardisierte Militär-Lastwagen L 4500 mit Einheitskabine aus Holz das zunächst noch schmale Gaggenauer Nutzfahrzeug-Angebot. Belebung stellte sich erst 1949 ein, als die Weiterentwicklung des L 4500 folgte: Der L 5000 war deutlich besser ausgestattet und besaß darüber hinaus ein Stahl-Fahrerhaus.
1949 wurde die erste Lkw-Neuentwicklung der Daimler-Benz AG nach dem Krieg vorgestellt. Zur technischen Ausrüstung des L 3250 mit Stahl-Fahrerhaus zählten ein Fünfgang-Getriebe und ein 90 PS starker Sechszylinder-Motor. Das zulässige Gesamtgewicht betrug 6,5 Tonnen. Gebaut wurde dieser Lkw in Mannheim. Ein Jahr später folgte die Neukonstruktion im Segment der schweren Lkw. Es war der heute als Klassiker eingestufte L 6600, ein Fahrzeug mit einer Nutzlast von 6,5 Tonnen, das auf Wunsch auch mit Allrad-Antrieb geliefert werden konnte. Im Juli 1950 wurde schließlich auch die Produktion des Omnibusses O 6600 aufgenommen.
Produktoffensive in den Fünfzigern
Die ersten Frontlenker in Gestalt des LP 315 erweiterten ab 1954 das Angebot, von 1956 an erzielte das ausschließlich für das Ausland gebaute Haubenfahrzeug L 326 mit 8,5-Tonnen große Exporterfolge. Ganz neue Wege beschritt man in Gaggenau mit dem „Tausendfüßler“ genannten Frontlenker LP 333, der von 1958 an gebaut wurde. Mit zwei gelenkten Vorderachsen war er eine maßgeschneiderte Antwort auf die restriktiven neuen Vorschriften des deutschen Bundesverkehrsministeriums bei Maßen und Gewichten.
Der klassische Hauben-Lkw war damit aber noch lange nicht aus dem Entwicklungsprogramm gestrichen. 1959 stellte Daimler-Benz die neuen „Rundhauber“ vor: Die mittelschweren Varianten produzierte das Werk Mannheim. Die Schweren, im Export bis in die 1990er Jahre sehr erfolgreich, fertigten bis Dezember 1967 die Gaggenauer.
Ein völlig neues Kapital in der Geschichte der Nutzfahrzeuge wurde bereits 1951 aufgeschlagen. Am 3. Juni begann im Werk Gaggenau die Produktion eines Alleskönners mit dem ungewöhnlich langen Namen „Universal-Motor-Gerät“. Unter dem Akronym „Unimog“ wurde das Fahrzeug nicht nur weltberühmt, sondern mit über 325.000 in Gaggenau gebauten Einheiten auch ein weltweiter Verkaufsschlager. Bereits im ersten Produktionsjahr rollten 1.005 Fahrzeuge vom Band.
Mit 25 PS für alle Zwecke gerüstet
Für den kompakten, gerade mal dreieinhalb Meter langen Unimog genügte damals ein 25 PS-Dieselaggregat, um überall durchzukommen und alles erledigen zu können – vor allem in der Landwirtschaft, wofür er vom ehemaligen Daimler-Benz Flugmotoreningenieur Albert Friedrich konzipiert wurde. Schon der erste Entwurf sah bereits Anbauräume für Mähgeräte, eine Ladefläche, eine Vorrichtung für Anhänger und die Möglichkeit des Pfluganbaus vor. Die weiteren
Fahrzeug-Merkmale: schlichtes und funktionelles Fahrerhaus mit Klappverdeck, Allradantrieb und ein Fahrgestell mit vier gleich großen Rädern.
Beim anfänglichen Einheitsmodell blieb es nicht. Durch Weiterentwicklungen wuchs der Unimog 1953 zur Baureihe 401/402 und eine Variante mit geschlossener Kabine kam hinzu. 1956 kletterte die Motorleistung von 25 auf 30 PS und zur Auswahl stand eine weitere Variante mit langem Radstand. Im Mai 1961 rollte der 50.000. Unimog vom Band. Der Ur-Unimog war als Modell genau so unaufhaltsam wie seine Fahreigenschaften im Gelände: Die Motorleistung stieg Schritt für Schritt auf 32 und 34 PS. Er blieb bis in die 1970iger Jahre die Plattform des Unimog-Programms.
MBtrac – ein Bruder des Unimog
Ein ebenbürtiger Bruder des Unimog, allerdings mit starrer Hinterachse, bereicherte die Gaggenauer Produktionsbänder ab Juli 1973: Der MBtrac 65/70 – 65 für DIN-PS nach europäischer Richtlinie und 70 für SAE-PS, die bis heute in den USA gebräuchlich sind. Die Fahrzeuge des MBtrac-Programms waren Schlepper mit Allrad-Antrieb, vier gleich großen Rädern, Portalachsen, hoher Zugkraft, festem Komfort-Fahrerhaus, Servolenkung, gefederter Vorderachse und genormter Dreipunkt-Kraftheber-Hydraulik. Eine solche Konzeption hatte der Schleppermarkt noch nie zuvor gesehen. Bis zur Einstellung des MBtrac im Jahr 1991 wurden über 40.000 Modelle gebaut.
Schon lange bevor der MBtrac in Produktion ging, war der Lkw-Bau von Gaggenau ins neue Werk Wörth am Rhein verlagert worden, wo ab 1965 die Herstellung aller mittlerer und schwerer Lkw zusammengefasst wurde. Hintergrund für diese Entscheidung: Gaggenau war damals an seine Kapazitätsgrenzen gestoßen und sollte sich deshalb auf die Produktion der verschiedenen Unimog-Varianten sowie auf Achsen und Getriebe konzentrieren.
Achsen und Getriebe stehen heute im Mittelpunkt
Nach über 50 Jahren Unimog-Fertigung gab das Werk Gaggenau im Jahr 2002 schließlich auch diesen Produktionszweig nach Wörth ab und übernahm im Gegenzug die Funktion eines Kompetenzzentrums für mechanische und automatisierte Getriebe. So ist das Werk im Murgtal heute dem Lkw nur mehr indirekt verbunden und gewissermaßen in die Rolle des Zulieferers für andere Mercedes-Benz Werke geschlüpft. Bis heute haben über 8,85 Millionen Getriebe aus dem Werk Gaggenau ihren Weg in die Welt angetreten.
100 Jahre nach Übernahme durch Benz & Cie. ist in Gaggenau die Fertigung von speziellen Komponenten wie Achsen, Getriebe und Drehmomentwandler, sowie diverse Bauteile für viele Konzernprodukte angesiedelt. Berühmt sind zum Beispiel die Lkw-Außenplanetenachsen, die Gaggenau seit ihrer Einführung 1972 in der so genannten „Neuen Generation“ fertigt und die heute noch vor allem die Baufahrzeuge Actros und Axor sowie den Econic und den Zetros aus dem Sonderfahrzeugprogramm antreiben.
Mehr als 2,5 Millionen Achsen hat das Werk Gaggenau bis heute insgesamt produziert und ist der weltgrößte Hersteller von zweistufigen Außenplanetenachsen sowie Portal­achsen.
„Die Produktstrategie fürs neue Jahrtausend hat sich als richtig erwiesen“, betont rückblickend Dr. Holger Steindorf, Leiter des Werkes Gaggenau und Leiter der weltweiten Achs- und Getriebeproduktion bei Daimler Trucks. „Aber es waren vor allem unsere über 6000 Mitarbeiter“, ergänzt er, „die sehr schnell die Chance erkannt haben, die sich dem Kompetenzzentrum für Nutzfahrzeug-Komponenten und für mechanische und automatisierte Schaltgetriebe für Pkw, Transporter, Lastwagen und Omnibusse bietet.“