Ein Kommentar von Matthias Iken
Eigentlich gehören Wahlen in Finnland nicht zu den Ereignissen,
die die Welt bewegen. Mit dem Wahlerfolg der Wahren Finnen ist das
anders: Der Euro erlitt gestern einen Schwächeanfall, an den Märkten
und in der Politik wächst die Angst, dass die mühsam ausgehandelten
Finanzhilfen für die Schuldenstaaten wieder infrage stehen. Das
Signal von Helsinki lautet: Wir zahlen nicht für eure Schulden. Das
europäische Haus bekommt unübersehbar Risse, der Norden und der Süden
entkoppeln und entfremden sich. Die Solidarität, die die Europäische
Union einst einig und stark gemacht hat, ist auf dem Rückzug.
Nationale Egoismen und Populisten befinden sich auf dem Vormarsch.
Finnland erweitert die lange Reihe der Staaten, in denen radikale
Parteien plötzlich bis in die Mitte der Gesellschaft hinein punkten
und Wahlergebnisse von bis zu 20 Prozent und mehr erzielen. Die
Finnen folgen Schweden, Dänen, Österreichern oder Niederländern – in
den stabilen konsensorientierten Gesellschaften Nordeuropas gelingen
den Populisten Erfolge aus dem Nichts mit islam- und europakritischen
Positionen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass ein ähnlicher Triumph
auch in Deutschland möglich ist. Das Unbehagen vieler über Europa ist
seit Jahren gewachsen und hat sich durch die Euro-Krise verstärkt.
Europa hat ein dramatisches Vermittlungsproblem: Die Erfolge der
Einigung sind beachtlich, aber werden inzwischen als
selbstverständlich betrachtet. Die Generation der im Krieg
sozialisierten Politiker verstand einen Kontinent des Friedens noch
als hartes Stück Arbeit; den Generationen ihrer Kinder und Enkel
erscheint das Europa ohne Schlagbäume längst als
Selbstverständlichkeit. Man reist über den Kontinent, studiert in
anderen Staaten und kann überall arbeiten. Die Utopie von einst ist
Realität geworden, Alltag. Das Alltägliche erscheint gottgegeben. Wer
streitet heute noch für die europäische Idee? Eurokraten in Brüssel,
die, dem Wahlvolk entrückt, in kafkaesken Schlössern regieren? Die
Politiker auf nationaler Ebene, die Europas Erfolge für sich
verbuchen und bei Misserfolgen nach Brüssel zeigen? Oder wir
europasatten Bürger? Finnland ist ein Menetekel: Die europäische Idee
ist kein Selbstläufer, sie erfordert Einsatz, Kompromissbereitschaft
und auch Geld. Europa ist zu wertvoll, als dass man es Populisten
überlassen darf.
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