Die Gültigkeit von Analysen zur Lage in Libyen hat
gegenwärtig eine Halbwertszeit von wenigen Stunden. Der Furor der
dortigen Revolution hat selbst Experten überrascht. Doch unabhängig
von der Frage, wann der Dauerdespot Gaddafi stürzt, gibt es einige
Konstanten. Libyen weist gegenüber den arabischen Nachbarn
Besonderheiten auf, die Verlauf und Charakter der Rebellion erheblich
beeinflussen. Zum einen zerfällt Libyen traditionell in zwei
miteinander rivalisierende Großregionen – Tripolitanien mit der
Hauptstadt Tripolis, und die Cyrenaika im Osten mit der Metropole
Bengasi. Nicht zufällig ist die Cyrenaika, deren Bewohner sich seit
Langem benachteiligt fühlen, nun das Herz der Revolte. Zudem ist
Libyen mit seiner archaischen Beduinenkultur von Stämmen geprägt; das
ausgeprägte Nationalbewusstsein etwa der Ägypter fehlt hier
weitgehend. Und während es den Menschen in Ägypten und Tunesien
vorwiegend um Bürgerfreiheiten, Menschenrechte und bessere Chancen
geht, spielen in Libyen zudem Verteilungskämpfe um Macht und Pfründe
eine erhebliche Rolle. Den seit 1969 herrschenden Gaddafi-Clan, der
wohl wesentliche Teile der libyschen Ölmilliarden in eigene Taschen
kanalisiert hat, möchten viele zu Fall bringen – von einer
Demokratisierung des Wüstenlandes ist dagegen kaum die Rede. Vor
romantischen Freiheitsvisionen sei daher gewarnt. Der Westen, voran
die USA, hat derzeit wenig Möglichkeiten, die Lage in Libyen zu
beeinflussen. Drohungen mit Sanktionen dürften den irrlichternden
Diktator Gaddafi, der nicht mehr nur um die Macht, sondern um sein
blankes Leben kämpft, wenig anfechten. Gaddafi hat immerhin dem
eigenen Volk den Krieg erklärt und weiß genau, dass er im Falle
seines Sturzes mit seiner Exekution rechnen muss. Er hat Teile der
libyschen Armee wie eine Prätorianergarde auf sich eingeschworen und
Tausende Söldner in Schwarzafrika eingekauft. Gaddafis Rest-Stärke
ist schwer einzuschätzen – doch falls genügend Kräfte weiter zu ihm
halten, könnte Libyen entlang der Regionen- und Stammesgrenzen
zerreißen. Dann würde aus einem Aufbegehren verzweifelter und
frustrierter Menschen ein blutiger Bürgerkrieg. Europa wird dann
nicht mehr nur die Rolle des mitleidigen Beobachters und Mahners
spielen können, der in bestimmten Intervallen Abscheu und Entsetzen
äußert. Denn dann könnten Hunderttausende Flüchtlinge an seine
Südgrenze branden und konkrete Hilfe einfordern.
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