HAMBURGER ABENDBLATT: Inlandspresse, Hamburger Abendblatt zu Staatsdefizit

Ein Kommentar von Matthias Iken

Mit wachsendem Entsetzen starren Märkte und Politik auf
Statistiken, die zu Fieberkurven eines ganzes Kontinents geworden
sind: das gesamtstaatliche Defizit und die Verschuldungsquote. Doch
während Notprogramme beschlossen, Rettungsschirme aufgespannt und
gemeinsame Euro-Anleihen diskutiert werden, geraten die wirklich
entscheidenden Wirtschaftsdaten aus dem Blick: Es ist das Wachstum.
Natürlich hat Europa ein Schuldenproblem, vor allem aber hat der
Kontinent ein Wachstumsproblem. Während die Refinanzierung der
Altschulden im Zentrum steht, spielen Wachstumsimpulse nur eine
nachrangige Rolle. Wie töricht das ist, belegen die jüngsten
Konjunkturdaten aus Deutschland und Griechenland. Das deutsche
Defizit dürfte im laufenden Jahr deutlich stärker sinken und nur 1,5
Prozent betragen, die Schuldenquote des Landes sinkt von 83 auf 80
Prozent. Grund für die Erholung der Staatsfinanzen sind weder
Steuererhöhungen noch Sparpakete, sondern steigende Steuereinnahmen
aufgrund des soliden Aufschwungs. In Griechenland hingegen lässt sich
beobachten, wohin drakonische Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen
führen – in eine Haushaltsschieflage. Das Defizit dürfte mit
mindestens acht Prozent der Wirtschaftsleistung schlimmste
Befürchtungen noch übertreffen. Die Ursache: Die griechische
Wirtschaft wird 2011 um fünf bis 5,5 Prozent schrumpfen. Wenig
spricht dafür, dass Griechenland aus diesem Teufelskreis der
sinkenden Wirtschaftsleistung und wegbrechender Steuereinnahmen
herauskommt. Und die Milliarden, die nun ins Land fließen, nützen
eben nur den Altinvestoren, helfen der Konjunktur aber nicht weiter.
Hilfreicher wäre es andersherum: Die Gläubiger müssten per
Schuldenschnitt an der Sanierung beteiligt werden, die Hilfen müssten
das Wachstum ankurbeln. Europa sollte sich in dieser Krise an seine
eigenen Ziele erinnern, die 2000 als Lissabon-Strategie formuliert
wurden: Bis 2010 wollte der Kontinent zum wettbewerbsfähigsten und
dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt werden. Es ist das Drama der
Europäischen Union, dass darüber längst keiner mehr spricht.

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