Landeszeitung Lüneburg: EU kann noch mutiger werden / Roderich Kiesewetter (CDU): Ukraine muss ohne Druck Moskaus ihre Zukunft gestalten

Russlands Griff nach der Krim lässt in Europa die
Angst vor einer erneuten Blockkonfrontation wachsen. Der
CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter warnt Politiker wie Gregor
Gysi (Die Linke) davor, der Propaganda des Kreml auf den Leim zu
gehen: „Das ist keine Wiedervereinigung, das ist eine
völkerrechtswidrige Annexion.“ Skeptisch sieht er das Vorhaben der
EU, heute den politischen Teil des Assoziierungsabkommens mit der
Ukraine zu unterzeichnen. Vorerst dürfte die Krim für Kiew verloren
sein, eine Rückkehr könnte Jahrzehnte dauern, so Kiesewetter.

Deutschland soll außenpolitisch mehr Verantwortung übernehmen, um
seiner gewachsenen Bedeutung gerecht zu werden. Ist die Krim-Krise
die Gelegenheit dazu?

Roderich Kiesewetter: Ja, und Deutschland beweist das bereits.
Etwa, als Außenminister Steinmeier mit seinen Kollegen aus dem
Weimarer Dreieck (Deutschland, Frankreich, Polen; d. Red.) versuchte,
die alte ukrainische Führung davon zu überzeugen, sich
demokratiekonformer zu verhalten. Zurzeit drängt Berlin auf die
Bildung einer Kontaktgruppe zur Entschärfung der Krise, die Kanzlerin
telefoniert nahezu täglich mit Putin. Die Frage lautet jetzt, wie
kann man auf Putin einwirken, damit er den gefährlichen Weg der
Provokation verlässt, den er gerade geht?

Ist Putin denn noch ansprechbar?

Kiesewetter: Aus meiner Sicht hat er den Westen unterschätzt.
Deshalb versucht er, rasch Fakten zu schaffen. Wir müssen daher
unbedingt verhindern, dass sich sein Eindruck, der Westen sei
schwach, verfestigt. Die jetzt gültige zweite Stufe der Sanktionen
ist sehr moderat. Wir kommen nicht umhin, sie rasch zu verschärfen.
Wir dürfen nicht zulassen, dass Garantien, wie sie im Budapester
Memorandum von 1994 der Ukraine gegeben wurde, weggewischt werden.
Damals hatten sich die USA, Großbritannien und Russland gegenüber
Kasachstan, Weißrussland und der Ukraine verpflichtet, als
Gegenleistung für deren Nuklearwaffenverzicht die Souveränität und
die bestehenden Grenzen der Länder zu achten. Wie wollen wir künftige
Nuklearschwellenmächte davon überzeugen Aufrüstungsbemühungen
einzustellen, wenn die Ukraine von einem der Signatarstaaten des
Vertrages wie Eigentum behandelt wird?

Inwieweit ist die EU mitschuldig an der Eskalation, weil sie mit
ihren Avancen an Kiew im Kreml Einkreisungsängste forcierte?

Kiesewetter: Zunächst mal gingen die Annäherungsinitiativen nicht
von der EU oder der NATO aus, sondern von den ehemaligen Staaten des
Sowjetimperiums. Die EU fordert sehr hohe Standards von ihren
Partnern, und diesen hat die Ukraine nicht genügt. Es war zwar gut,
zu beweisen, dass wir auch in Krisensituationen nicht von diesen
Standards abweichen. Eine Lehre haben wir allerdings zu ziehen: Im
Spätherbst 2013, als es um das Votum der Ukrainer für oder gegen die
EU ging, hätten wir noch deutlicher machen müssen, wie wir die
Ukraine unterstützen könnten. Sicherlich hätte die EU die Schulterung
größerer Lasten anbieten können, bei gleichzeitigem Drängen auf eine
effektive Bekämpfung von Korruption und Misswirtschaft.

Also war die Strategie, die Chance zu nutzen und den
Einflussbereich bis vor die Grenzen Russlands auszuweiten, richtig?

Kiesewetter: Ja, weil eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine auch in
russischem Interesse liegt – wenn man von Putin einmal absieht. Putin
spielt mit uns, weil er genau weiß, dass sich der Westen mit dem Ende
des Kosovo-Konfliktes 1999 aus dem Denken in militärischen Kategorien
verabschiedet hat. Wir haben nicht wahrhaben wollen, dass Grenzen
noch verschoben werden können. Das strategische Ziel Putins ist nicht
die Krim, sondern der Zugriff auf die Rüstungs- und Schwerindustrie
im Osten der Ukraine. In den kommenden Monaten gilt es, der möglichen
Eskalation mit allen diplomatischen Mitteln – also etwa der
Kontaktgruppe sowie einer OSZE-Mission – entgegenzuwirken.
Bemerkenswert ist auch, wie es Putin gelingt, in die deutsche
Innenpolitik hineinzuwirken, über die Linkspartei sogar bis in den
Bundestag hinein. Der Westen muss sich dafür stark machen, dass die
Ukraine in freier Selbstbestimmung ohne militärischen Druck über ihre
Zukunft entscheiden kann. Auch die Wahlen müssen in voller
Souveränität durchgeführt werden können.

Ist diese Krise der richtige Zeitpunkt, um wie geplant den
politischen Teil des Assoziierungsabkommens mit der Ukraine zu
unterzeichnen?

Kiesewetter: Es wäre in der Tat zu überlegen, dieses
Unterzeichnung zu verschieben, um nicht Öl ins Feuer zu gießen.
Zunächst mal müssen wieder ruhige Verhältnisse herrschen, das heißt,
Russland muss sich wieder zurückziehen. Die Annektierung der Krim ist
völkerrechtswidrig, verfassungswidrig und kam unter starkem
militärischen Druck zustande. Nach der Krim-Krise dürfen wir nicht
einfach wieder zur Tagesordnung übergehen.

Ist die Krim nur die erste Beute in einem längeren Beutezug
Putins?

Kiesewetter: Aus meiner Sicht ist Putin ein geschickter Stratege.
Betrachtet man den Zankapfel Krim isoliert, wäre es etwa auch möglich
gewesen, den Verbleib der russischen Schwarzmeerflotte mit neuen
Verträgen für längere Zeit zu garantieren. Aber ihm wird es darüber
hinaus darum gegangen sein, einen Korridor zu der Halbinsel zu
schaffen, um kontrollierten Zugang zu erhalten. Zudem reizt ihn die
Rüstungsindustrie im Osten des Landes. Ein Druckmittel Putins ist es,
eingefrorene Konflikte wieder zum Brodeln zu bringen, etwa die um
Transnistrien und mit Georgien.

Ist die Sorge in den baltischen Staaten angesichts von Moskaus
Argumtationskette, in der Ukraine nur russischssprachige Bürger zu
schützen, gerechtfertigt?

Kiesewetter: Absolut. Allein die Aussage, dass die Russen im
Ausland einen Anspruch darauf hätten, den Schutz Moskaus zu genießen,
verunsichert. Deshalb müssen wir rote Linien definieren. Solche
Linien sind die östlichen Grenzen des EU- und des NATO-Gebietes. Die
Wahrnehmung einer Bedrohung durch Russland ist in diesen Gebieten
ganz anders als bei uns. Deshalb bedürfen die Bündnisstaaten im Osten
des Signals, dass sie in Sicherheit sind, weil wir zu unseren
Verträgen stehen. Und Moskau muss das Signal erhalten, dass die
Vertragsgebiete von EU und NATO tabu sind.

Zweigeteilte Frage: Wird Russland die erbeutete Krim je wieder
freigeben? Und: Hat die Ukraine noch eine Chance, sich gegen die
Sezession ihres Ostens zu wehren?

Kiesewetter: Erstens: Estland, Lettland, Litauen waren über 50
Jahre von der Landkarte verschwunden. Trotzdem überdauerten ihre
nationalen Identitäten. Wir dürfen nicht vergessen, wohin die Krim
gehört hat. Es bedarf eines langen Atems, der sich nicht in Monaten
berechnen lässt. Putin denkt in Jahrzehnten und hat aus seiner Sicht
Chruschtschows Fehler von 1953 korrigiert. Wir lernen sicher daraus,
nicht nur in Legislaturperioden zu denken, sondern unser historisches
Bewusstsein zu schärfen. Zweitens: Ich befürchte eine Spaltung der
Ukraine. Das dürfen wir nicht zulassen. Die Frage ist aber, ob wir
bereit sind, noch härtere Sanktionen zu verhängen. Um Präzedenzfälle
zu vermeiden, sollten wir auch unsere Wirtschaft in die Pflicht
nehmen. Mittelfristig ist Russland auf unsere Technologie und den
Austausch mit dem Westen angewiesen.

Ist der Zugriff auf die Krim als Teil des russischen Sonderwegs zu
verstehen, sich als autoritäres, imperiales Gegenmodell zu
präsentieren?

Kiesewetter: Der russische Botschafter betonte jüngst in kleiner
Runde mir gegenüber, dass Russland ein kapitalistisches Land geworden
ist. Was Russland aber fehlt, ist ein Gespür für Demokratie und
Mitbestimmung, ein Gespür für die kulturelle Identität seiner
Nachbarschaft und eines für die Zukunft des diplomatischen
Miteinanders. Der Kreml beschränkt sich derzeit auf reine
Machtprojektion. Für uns heißt das, dass wir künftig mehr mit den
Kräften in der russischen Zivilgesellschaft Kontakt halten müssen,
die für ein anderes, kooperatives Russland stehen.

Würden Wirtschaftssanktionen der EU angesichts ihrer
Ressourcenabhängigkeit mehr schaden als Russland?

Kiesewetter: Das glaube ich nicht. Wir müssen aber unsere Quellen
weiter diversifizieren, dürfen uns nicht abhängig machen von den
künstlich niedrig gehaltenen Lieferpreisen Russlands. Letztlich
müssen wir unsere Energieversorgungssicherheit neu konzipieren, die
Energiewende hilft uns dabei. Zudem brauchen wir Rohstoffabkommen und
Versorgungswege zu anderen Regionen der Welt. Hier gilt der Vierklang
einer nationalen Strategie: Was sind unsere Interessen? Welche
Aufgaben wollen wir erfüllen? Mit welchen Instrumenten? Und in
welchen Regionen?

Sind Sanktionen immer Ausdruck politischer Hilflosigkeit, wie ihr
Fraktionskollege Karl-Georg Wellmann sagt?

Kiesewetter: Sanktionen sind ein niedrigschwelliges Mittel, das
dennoch sofort wirksam sein kann. Aber Sanktionen müssen so gestaltet
sein, dass jederzeit eine Rückkehr an den Verhandlungstisch möglich
ist. Ein Ausschluss von der G-8-Gruppe ist ein starkes Zeichen,
ebenso das Aufkündigen der militärischen Zusammenarbeit. Derzeit sind
die Sanktionen bewusst schwach. Wenn die EU 100 relevante Personen
identifiziert, denen die Einreise verweigert werden sollte, und über
ein Wochenende schrumpft diese Liste auf 21 Namen zusammen,
vermittelt das schon den Eindruck, dass die EU noch etwas mutiger
werden kann.

Die Ukraine war schon vor der Krim-Krise ein konfessionell und
politisch zutiefst gespaltenes Land. Ist das Zerbrechen
unausweichlich?

Kiesewetter: Ist es nicht, wenn es in Kiew gelingt, alle
gesellschaftlichen Kräfte einzubinden, denen an einer friedlichen
Lösung gelegen ist. Sollte die Ukraine eine dezentrale Struktur
finden, die den Regionen je nach ihren kulturellen und sprachlichen
Eigenheiten weitgehend einräumt, könnte es sogar als Rollenmodell für
den Balkan oder Moldawien taugen. Aber dafür muss Russland einer
breiten OSZE-Mission zustimmen, die nicht nur die Wahlen überwacht,
sondern auch das ethnische Miteinander. Der Westen darf dieses Ziel
nicht aus den Augen verlieren. Schon wegen der russischen
Nachbarstaaten wie Kasachstan, die sonst mit ihren starken russischen
Minderheiten ins Visier des Kreml geraten könnten.

Das Interview führte Joachim Zießler

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