Landeszeitung Lüneburg: Kampf der „virtuellen Stämme“ – Interview mit Dr. Isabelle Werenfels und Mareike Transfeld über die Wirkung sozialer Medien

Seit Donald Trumps Sieg wird die zerstörerische
Kraft der sozialen Medien für die Demokratie diskutiert. Vor fünf
Jahren wurden Facebook und Twitter als Demokratisierungswerkzeuge im
„Arabischen Frühling“ noch bejubelt. Mareike Transfeld und Dr.
Isabelle Werenfels von der Denkfabrik SWP erforschten Twitterdebatten
in Arabien. Ihr Fazit: „Überhöht und verteufelt – beides richtig und
falsch“.

2011 heizten Wikileaks-Enthüllungen über die Korruption im Regime
Ben Ali die revolutionäre Stimmung in Tunesien bis zum Überkochen an,
im Arabischen Frühling wurden Twitter und Facebook als
„Befreiungstechnologien“ gefeiert. Heute sorgt man sich in
Deutschland, dass Fake News und Bots wie in den USA den Wahlkampf
beeinflussen könnten. Segen oder Fluch – was sind nun soziale Medien?

Dr. Isabelle Werenfels: Weder noch. Zunächst wurden die sozialen
Medien hochgejubelt, ohne dass man ihre Rolle in den arabischen
„Revolutionen“ genau analysiert hatte. Kaum nahm man wahr, dass der
Islamische Staat Twitter und Facebook zu Propaganda- und
Rekrutierungszwecken nutzt, kippte die Bewertung ins andere Extrem.

Mareike Transfeld: Das Problem der „Fake News“ ist nicht auf die
USA oder Europa beschränkt. Das Problem gibt es im arabischen Raum
spätestens seit dem Sturz der Despoten ebenfalls – und zum Teil mit
dramatischeren Ausprägungen. Dr. Werenfels: Auch, weil das Korrektiv
„traditioneller“, freier Medien fehlt. Die klassischen Medien im
arabischen Raum sind meist durch Staatsnähe geprägt.

Sie haben drei Twitter-Debatten im arabischen Raum erforscht.
Welche waren das und wieso haben Sie sie ausgewählt?

Transfeld: Wir wollten thematisch und geografisch eine breite
Palette gesellschaftlich relevanter Themen abdecken: So beleuchteten
wir die Debatte im Maghreb-Raum über Anti-Fracking-Proteste in
Südalgerien, die Twitter-Debatte über eine Massenvergewaltigung auf
dem Tahrir-Platz im Sommer 2014 und die Debatte über Saudi-Arabiens
Militärintervention im Jemen im Frühjahr 2015. Letztere Themen auch,
weil die Saudis Twitter im arabischen Raum vor den Ägyptern am
stärksten nutzen.

Dr. Werenfels: Ganz wichtig war, Debatten herauszugreifen, bei
denen wir den ersten Tweet herausfiltern konnten. So konnten wir
verfolgen, wie sich die Debatten inhaltlich und geografisch
erweiterten.

Nehmen wir die Debatte um die Vergewaltigungen auf dem
Tahrir-Platz. War das Internet in diesem Punkt ebenfalls ein Raum der
Entfesselung, in dem Frauenfeindlichkeit ausgelebt wurde?

Transfeld: Sicherlich auch, aber nicht nur, das war das Besondere.
Ein großer Teil der Tweets verurteilte die Vergewaltiger und nahm das
Opfer in Schutz – formulierte sogar eine Scham für die Nation
Ägypten. Es gab aber auch Tweets, die die Täter verteidigten, indem
sie den Frauen unterstellten, unzüchtige Kleidung getragen zu haben.
Oder solche, die auf frauenfeindliche Einstellungen anderer Männer
Bezug nahmen.

Dr. Werenfels: In den Nachbarstaaten, wo die Debatte aufgegriffen
wurde, überwog das Entsetzen und es wurden Solidaritätsnetzwerke
geknüpft. Wobei die Notwendigkeit, Frauen vor solchen Übergriffen zu
beschützen, in den eigenen nationalen Zusammenhang gestellt wurde.
Transfeld: In welche Richtung die Debatte ging, zeigt sich daran,
dass sich Präsident al-Sisi genötigt sah, das Opfer der
Vergewaltigung im Krankenhaus zu besuchen. Zudem wurde als Konsequenz
auch dieser Debatte das Sexualstrafrecht reformiert.

Hat Twitter hier den Spalt zwischen dem urbanen, modernen und dem
ländlich-religiösen Ägypten überbrückt?

Transfeld: Nein, schon allein, weil die meisten Twitter-Nutzer in
Kairo sitzen, gefolgt von Alexandria und den Auslands-Ägyptern.

Dr. Werenfels: Man darf auch nicht den Fehler begehen, die
Twitter-Nutzer im arabischen Raum für repräsentativ zu halten.
Tatsächlich reden wir hier primär von der Bildungselite, die aber
auch anderen, wie Opfern von Vergewaltigungen eine Stimme verleiht.
In Algerien zum Beispiel verleihen sie bisher „stummen“ Minderheiten
in der geographischen Peripherie eine Stimme, die auch international
gehört wird. So finden Opfer eine Lobby, sie selbst beteiligen sich
selten direkt an der Debatte.

Transfeld: Eine destruktive Wirkung der sozialen Medien konnten
wir beobachten: Die Debatte über die Vergewaltigungen wurde derartig
politisiert, dass es schließlich nur noch darum ging, entweder für
al-Sisi oder für die Muslimbruderschaft Farbe zu bekennen. Der Spalt
zwischen den eher liberalen Anhängern des Präsidenten und denen der
konservativen Muslimbrüder hat sich noch vertieft. Frauenrechte
spielten in der Debatte keine Rolle mehr.

Stichwort Anti-Fracking-Proteste in Südalgerien: War dies anderswo
beispielgebend?

Dr. Werenfels: Es gab zwar Twitter-User, die dieses Thema in
Ägypten und Tunesien lanciert haben, doch das fiel nicht auf
fruchtbaren Boden. Und dies, weil es in Algerien nicht nur um die
Umweltproblematik ging, sondern auch um die jahrzehntelange
Benachteiligung von Bevölkerungsgruppen wie den Tuareg. Nicht zuletzt
verhinderte die unsichtbare soziokulturelle Grenze zwischen dem
Sahara-Algerien und dem Mittelmeer-Algerien, dass es zu größeren
Protesten gegen das Fracking im Norden kam – abgesehen von den
sozialen Medien. Nur ebenfalls marginalisierte Gruppen, wie die
Mozabiten, die Arbeitslosenbewegung im Süden, solidarisierten sich.

Bezogen auf Saudi-Arabiens Militärintervention im Jemen:
Orientierten sich die „virtuellen Stämme“ der Diskutierenden entlang
konfessioneller und ethnischer Zugehörigkeit?

Transfeld: Absolut. In der arabisch-sprachigen Debatte tweeteten
hauptsächlich Bewohner der Golfstaaten, die ihre sunnitische
Identität in den Mittelpunkt stellten. Der Feind wurde als schiitisch
verstanden, die jemenitischen Huthis wurden dann mit den Iranern,
Hisbollah und Bashar al-Assad in einen Topf geworfen. Schiiten, die
sich diesem „virtuellen Stamm“ entgegenstellten, fanden sich im
Libanon, wo sich Hisbollah-Anhänger mit den Huthi solidarisierten.
Auch, weil der Libanon dieselben Brüche aufweist wie die gesamte
Region, geprägt von dem Konflikt zwischen dem Iran und Saudi-Arabien.

Dr. Werenfels: Die Konfliktlinien im virtuellen Raum ähneln denen
in der realen Welt.

Transfeld: Aber die Konfliktparteien sind anders repräsentiert. So
gab es in der arabisch-sprachigen Jemen-Debatte fast nur
Pro-Saudi-Stimmen. Das liegt natürlich auch daran, dass die Regierung
in Riad in Bots-Technologie investiert, also automatisierte
Twitter-Accounts, die retweeten, so dass sie den Dreh dieser Debatte
auf Twitter verfälschen.

Dr. Werenfels: Grundsätzlich ist es so, dass in technologisch
weniger entwickelten Staaten wie Marokko, Algerien, Tunesien und
Jordanien die Twitter-Community anders zusammengesetzt ist. Dort
handelt es sich eher um Menschenrechtsaktivisten und Journalisten.
Erst wenn die Communities wachsen – wie in Ägypten und Saudi-Arabien,
beginnt der Staat, sich zu fürchten und antwortet mit Zensur,
Gegenpropaganda und Bots.

Wie groß ist die Tendenz, sich in seinen eigenen Vorurteilen zu
vergraben, weil sich Gleichgesinnte in ihren Ansichten nur
verstärken?

Transfeld: Die war übermächtig. Gerade in der saudischen Debatte
hatte man nicht den Eindruck, dass eine Diskussion gesucht wurde.
Zudem handelte es sich um ein indirektes Event. Die Nutzer sahen den
Einsatz im Fernsehen und spiegelten oft nur wider, was auf Al-Arabia
transportiert worden war – dass der Jemen vor dem Iran geschützt
werden müsse. In Ägypten war die Debatte differenzierter, weil sich
schon vor den Vorfällen von 2014 eine starke Bewegung gebildet hatte,
die ein Bewusstsein dafür schaffen wollte, dass es sich um sexuelle
Belästigung und nicht um Flirten handelt, wie das viele Ägypter bis
dahin verstanden hatten.

Die Faktentreue traditioneller Medien ist im arabischen Raum wegen
häufiger Regierungsnähe nicht sehr groß. Wie steht es mit der Skepsis
gegenüber sozialen Medien, ist sie größer als im Westen,wo nach einer
Stanford-Studie 80 Prozent junger Menschen nicht zwischen Wahrheit
und Unwahrheit unterscheiden können?

Dr. Werenfels: Das Vertrauen in die sozialen Medien ist dort
größer, weil viele traditionelle Medien staatlich gelenkt sind und
weil das Spektrum bei Twitter und Facebook breiter ist. Das erhöht
natürlich die Gefahr, dass Gerüchte schnell als Fakt genommen werden.
Im arabischen Raum dürften die Nutzer ähnlich schlecht zwischen
Fake-News und realen Nachrichten unterscheiden können wie im Westen.

Transfeld: Im Jemen ist die Qualität der traditionellen Medien
sehr schlecht, deshalb vertrauen viele Menschen eher
„Bürgerjournalisten“, vor allem, wenn diese mit ihren Berichten kein
Geld verdienen.

Dr. Werenfels: Zudem finden sich bei Twitter auch Artikel der „New
York Times“, die von den klassischen Medien neben den eigenen
Regierungsquellen nicht zitiert werden.

Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit soziale Medien –
egal ob in Arabien oder bei uns – Werkzeuge der Aufklärung statt
solche der Manipulation sind?

Dr. Werenfels: Quellentransparenz ist entscheidend. Man muss
wissen, was die Quelle ist. Letztlich ist es aber eine Frage der
Schulung und der Bildung. Mit wie viel Skepsis begegnet man
Informationen? In der USA-Wahlkampagne war erfahrbar, dass
Faktentreue den Menschen nicht mehr wichtig war, wohl auch ein
Ergebnis eines Jahrzehnte währenden Bildungsdesasters.

Transfeld: Damit Nutzer kritisch auch gegenüber sozialen Medien
bleiben können, halte ich es für unerlässlich, dass der Umgang damit
in der Schule erlernt wird, statt das Internet auf dem Schulgelände
zu verbieten. Gegen „Fake-News“-Seiten könnte dagegen schon Facebook
selbst stärker vorgehen, indem es einen Qualitätscheck für
Medienseiten einführt. Im arabischen Raum gibt es das Phänomen schon
seit vielen Jahren, dass diverse Nutzer sich auf ihren Accounts als
Zeitung ausgeben und Nachrichten einfach erfinden. Thematisiert wird
es bei uns erst jetzt, weil der Westen selbst betroffen ist.

Dr. Werenfels: In der arabischen Welt muss man allerdings bei der
„Fake-News“-Debatte aufpassen, dass man nicht den Herrschern ein
Mittel an die Hand gibt, um eine Kampagne gegen Aktivisten zu führen.
Fehlinformationen und Verschwörungstheorien sind dort oftmals
Herrschaftsinstrumente. Transparenz wird nur von einigen Aktivisten
hochgehalten, die dafür nicht auch noch bestraft werden dürfen.

Das Interview führte

Joachim Zießler

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