Hat sich der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete
Sebastian Edathy strafbar gemacht? Oder nur schuldig? Wer wusste wann
was? In der Affäre um die Kinderpornografie-Vorwürfe sind noch viele
Fragen offen. Prof. Dr. Reinhard Merkel, Strafrechtler und
Rechtsphilosoph an der Universität Hamburg, tritt für eine
differenziertere Debatte über die Pädophilie, Schuld und Moral ein.
Erschlichene Doktortitel, Affären um Dienstwagen und Bonus-Meilen,
Vorteilsannahme, Kinderporno-Verdacht – wer bestimmt, wann eine
politische Karriere zu Ende ist? Die Partei, wie CSU-Chef Horst
Seehofer gesagt hat?
Prof. Dr. Reinhard Merkel: Nein. Da spielen mehrere Faktoren eine
Rolle. Natürlich kommt es darauf an, wie eine Partei eine exponierte
politische Figur, die in die öffentliche Schusslinie geraten ist,
stützt oder nicht stützt. Aber von Bedeutung sind am Schluss auch
formale Kriterien: Wenn ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren
eröffnet wird, ist die politische Karriere in der Regel beendet –
selbst wenn das Verfahren zu nichts führt. Und selbstverständlich hat
auch das mediale Echo eine ganz erhebliche Bedeutung.
Unsere Gesellschaft toleriert in der Privatsphäre inzwischen fast
alles. Ist Kinderpornografie das einzige Tabu?
Merkel: Nein. Die reflexartige, abscheugetragene Abwehr gegen
Pädophilie steht in einer Reihe mit der moralischen Abwehr einiger
anderer Dinge, die damit zwar in der Sache nicht vergleichbar sind,
wohl aber in dem Abscheu, den sie hervorrufen. Denken wir an
Massenvergewaltigungen, Folter oder Völkermord. Allerdings muss man,
was die moralische Frage betrifft, bei der Pädophilie eine Reihe von
Unterscheidungen treffen.
Nämlich welche?
Merkel: Unterscheiden muss man zunächst, ob jemand pädophil
disponiert ist, ob er sexuelle Übergriffe auf Kinder verübt, oder ob
er als Konsument teilnimmt an einem schmutzigen Markt, in dessen
Hintergrund Kinder sexuell missbraucht und ausgebeutet werden. Dass
jemand pädophil ist, sagt moralisch zunächst einmal gar nichts aus.
Denn das ist die Folge – salopp gesagt – einer Fehlschaltung in
seinem Gehirn, für die er nichts kann. Wer vor dem Hintergrund der
aufgeregten Debatte heute Thomas Manns „Tod in Venedig“ in die Hand
nimmt, liest eine Eloge auf dessen eigenes pädophiles Empfinden. Die
Erzählung gehört mit Recht zur Weltliteratur; das literarisch
veredelte pädophile Motiv in ihrem Untergrund gibt kein moralisches
Verdikt her. Thomas Mann hat gewiss keine sexuellen Übergriffe auf
Kinder begangen. Aber er war offenbar erotisch auch
(selbstverständlich nicht nur) pädophil disponiert. Die Gesellschaft
– und deshalb betone ich das – muss sich angewöhnen, diese Dinge zu
unterscheiden und nicht reflexartig zu sagen: Wenn jemand als
Pädophiler identifiziert ist, dann geschieht ihm recht, wenn seine
Biografie zerstört wird. In unserer Gesellschaft gibt es viel mehr
pädophil Veranlagte, als man glaubt und weiß. Sexualpsychologische
Studien gehen von drei Prozent der Männer und bis zu 1,5 Prozent bei
Frauen aus. Die allerwenigsten davon greifen tatsächlich auf Kinder
über. Wenn SPD-Chef Sigmar Gabriel nun sagt, man werde Sebastian
Edathy aus der Partei werfen, weil dieser pädophil ist – unabhängig
von der Frage, ob Edathy etwas strafrechtlich Relevantes getan hat,
dann kann ich nur den Kopf schütteln und ihm raten, mal seine gesamte
Fraktion oder den ganzen Bundestag durchzumustern. Mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit sitzen weitere Menschen mit pädophilen
Neigungen im Parlament – ohne dass sie sich an Kindern vergehen. Und
auch beim Ausleben eines solchen Triebs gibt es übrigens ein breites
Spektrum an Möglichkeiten. Sie reichen von Grenzfällen elterlicher
Liebkosungen bis zu schwersten lebenszerstörenden Handlungen.
Die gerade deshalb juristisch schwer greifbar sind.
Merkel: Ja, die Grenzfälle. Aber der Gesetzgeber tut gut daran,
sich auf sexualpsychologische Abgrenzungen nicht einzulassen. Alles,
was in diesen Handlungsbereich fällt, auch in den der Grauzonen, ist
– selbst wenn es noch keine manifesten sexuellen Übergriffe gibt – so
gefährlich, dass das nicht erlaubt werden kann.
Die anstößigen Fotos und Filmaufnahmen machen die Kinder in der
Regel nicht freiwillig und sind oft lebenslang traumatisiert. Macht
sich nicht jeder Käufer mitschuldig?
Merkel: Sebastian Edathy hat Bilder und Filme bei einer Firma
bestellt, die auch sehr schmutziges, kinderschädigendes Material
vertreibt. Edathy selbst hat diesen Kindern gewiss nichts getan. Das
heißt natürlich nicht, dass sein Verhalten moralisch problemfrei
wäre. Aber ich bestehe auf notwendige Unterschiede. Wer Kinder zu
solchen Fotos nötigt, ist ein Schurke. Wer als ein Kunde unter
Tausenden die vorhandenen Bilder bezieht, mag auch ein Schurke sein,
aber er ist es nicht in demselben Maß wie der, der die Aufnahmen
gemacht hat. Die moralische Bewertung einzelner Handlungen ist oft
schwierig, wenn es um einen Fall unter Zehntausenden geht, der als
einzelner keinen messbaren Schaden bewirkt. Doch der kumulierte
Effekt aller Zehntausend hat erhebliche schädliche Folgen. Wenn
niemand bei solchen Drecksfirmen wie der in Kanada bestellen würde,
könnten die ihr Geschäft nicht betreiben. Dass jemand nur zu einem
Kumulationseffekt beiträgt, entlastet den Einzelnen nicht. Wer drei
Liter Altöl in den Starnberger See kippt, weil ihm der Ölwechsel zu
teuer ist, schädigt den See insgesamt nicht. Trotzdem ist dies mit
Recht verboten. Denn wenn das Zehntausende machten, würde der See
umkippen. Dann ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, es allen zu
verbieten.
Dann ändert die von Ihnen geforderte Differenzierung an der
moralischen Beurteilung also wenig?
Merkel: Nun, doch. Erstens produziert der Einzelne, der zu einem
solchen Kumulationseffekt beiträgt, nicht den ganzen Effekt. Zweitens
kommt etwas hinzu, das seltsamerweise in der Öffentlichkeit kaum
diskutiert wird: Ich bin sicher, dass jemand wie Sebastian Edathy mit
seiner eigenen sexuellen Disposition kämpft, um sich im Zaum zu
halten, sich nicht an Kindern zu vergehen. Aber er braucht dafür
vermutlich irgendeine Art von Hilfe. Ein Coming-out ist für Pädophile
in Deutschland beinahe unmöglich, ohne die eigene Biografie zu
zerstören. Es gibt viel zu wenig professionelle Anlaufstellen. Wenn
einer es mit Hilfe solcher Bilder, sozusagen als ein physisches
Ventil, schafft, nicht für Kinder gefährlich zu werden, dann kann das
moralisch gerechtfertigt sein. Die einzige Alternative wäre die
Aufgabe des eigenen Lebensplans in der Gesellschaft, bis hin zum
Suizid. Und das ist moralisch nicht zumutbar. Ich sage all das vor
dem Hintergrund, dass wir inzwischen wissen, dass es einen
erheblichen neurobiologischen Anteil bei pädophilen Störungen gibt.
Das ist nicht so einfach, wie es sich der Stammtischbürger vorstellt.
Diese Anlagen haben eine programmierte Grundlage im Gehirn.
Kann man die Unschuldsvermutung, die Sebastian Edathy von Anfang
an für sich in Anspruch genommen hat, trennen von der moralischen
Schuld?
Merkel: Man muss zwei Dinge unterscheiden. Edathy ist ja auch
rechtlich bedroht. Es läuft ein Ermittlungsverfahren. Die
Unschuldsvermutung ist kein Luxus unserer Strafprozessordnung,
sondern ein fundamentales Menschenrecht. Ein Staat ohne die
Unschuldsvermutung wäre tödlich gefährlich. Die Staatsanwaltschaft
hat ein bisschen kühn gesagt: Der Anfangsverdacht liegt vor. Das mag
man begründen können. Der Schluss, dass Edathy wohl auch verbotenes
Material haben dürfte, ist aber meiner Meinung nach nicht
überzeugend. Nun kommt aber ein weiterer Aspekt hinzu, nämlich die
öffentliche Diskussion. Die Medien sind selbstverständlich nicht an
eine Unschuldsvermutung gebunden. Aber sie haben die moralische
Pflicht, zu bedenken, was sie tun. Ein Journalist, der einen
Kommentar verfasst, wird sagen: Mein Anteil an der
gesamtgesellschaftlichen Debatte ist minimal. Aber auch hier gibt es
die bereits erwähnten kumulierten Effekte, die wie ein vernichtender
Orkan wirken. Sebastian Edathys Biografie ist auch dadurch schwer
beschädigt.
Der zurückgetretene Agrarminister Hans-Peter Friedrich nimmt für
sich in Anspruch, richtig gehandelt zu haben, als er die SPD-Spitze
über den Fall Edathy informierte, und kritisiert sogar die
Gesetzeslage im Hinblick auf den Vorwurf des Geheimnisverrats.
Bedient sich jeder der Moral, die ihm passt?
Merkel: Dazu drei knappe Anmerkungen. Erstens finde ich schon,
dass Friedrich übel mitgespielt wurde. Zweitens ist es zu simpel zu
behaupten, man habe richtig gehandelt, und wenn das Gesetz sage, das
sei falsch gewesen, müsse das Gesetz geändert werden. Das kann
allenfalls – drittens – als moralische Rechtfertigung zutreffen, wenn
für die Weitergabe der Informationen an Sigmar Gabriel keine
vernünftige Alternative verfügbar war, um einen möglicherweise
drohenden Schaden für die Regierungsbildung abzuwenden. Wenn es nur
so ging, weil zu erwarten war, dass Gabriel Edathy als Staatssekretär
vorschlagen würde, dann hat Friedrich moralisch ehrenwert gehandelt.
Er hätte die Kanzlerin unterrichten können.
Merkel: Auch in diesem Fall wäre es ja die Weitergabe eines
Geheimnisses gewesen. Aber Sie haben schon recht: Angela Merkel hätte
gegenüber der SPD einfach mauern und sagen können: Aus Gründen, die
hier nicht erörtert werden können, ist Edathy nicht akzeptabel. Wenn
Friedrich Zeit gehabt hätte zum Räsonieren, wäre er sicher selbst auf
diesen besseren Weg gekommen.
Das Gespräch führte
Klaus Bohlmann
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