Landeszeitung Lüneburg: „Tiefe Krise der Demokratie“ – Interview mit Stefan Lehne, österreichischer Ex-Spitzendiplomat

Eine gemischte Bilanz zieht Stefan Lehne, lange
einer der ranghöchsten österreichischen Diplomaten, heute
Politikberater in der Denkfabrik Carnegie Europe, nach dem jüngsten
Wahlsonntag: Alexander Van der Bellen habe bewiesen, dass man mit
pro-europäischem Kurs gegen Populisten gewinnen könne. Dennoch stecke
die EU in einem Teufelskreis: Renationalisierung und die Krise der
Demokratie verhinderten notwendige Reformen.

Sie waren als diplomatische Feuerwehr auch auf dem Balkan tätig.
Hätten Sie für möglich gehalten, dass in EU-Kernstaaten die
nationalen Leidenschaften mal wieder so hochschlagen wie es im
ehemaligen Jugoslawien normal ist?

Stefan Lehne: Ich bin persönlich sehr betroffen durch diese
Entwicklungen. Sicherlich ist mit der europäischen Integration
einiges schiefgelaufen, aber die Wahl Trumps in den USA zeigt, dass
wir es darüber hinaus mit einer tiefen Krise der repräsentativen
Demokratie im gesamten Westen zu tun haben. Alle Indikatoren zeigen
einen negativen Trend – von der Wahlbeteiligung über die
Mitgliedschaft in Parteien bis hin zum Vertrauen gegenüber
Politikern. Nach einer jüngst erschienenen Harvard-Studie haben
gerade junge Menschen das Vertrauen in die Demokratie verloren. Die
Gründe dafür sind zum einen strukturell: Die alten kollektiven
Identitäten haben sich aufgelöst. Bauern wählen nicht mehr
automatisch Bauern, Arbeiter nicht mehr Gewerkschafter,
Geschäftsleute nicht zwingend Liberalkonservative. Quasi
naturwüchsige Wahlentscheidungen gibt es nicht mehr. Dadurch hat sich
die Beziehung zwischen dem Wähler und seinem politischen Vertreter
gelockert. Dazu kommen die sozialen Medien, die eine Art
„Do-it-yourself-Politik“ ermöglichen. Es wird auf Facebook
mobilisiert, statt seine Interessenvertreter in die Pflicht zu
nehmen. Auch dadurch verliert die traditionelle Politik an Relevanz.
Der zweite Faktor ist die zunehmende Revolte gegen die
Globalisierung. Diese hat zwar Hunderte Millionen von Menschen, vor
allem in China und Indien, aus der Armut herausgeholt, hat aber eben
im Westen auch sehr viele Modernisierungsverlierer erzeugt. Es gibt
viele früher industrialisierte Regionen, die den Anschluss verloren
haben. Die Löhne schlecht ausgebildeter Arbeitnehmer stagnieren,
während die Ungleichheit ständig zunimmt. Millionen Europäer
erwarten, dass ihre Kinder schlechter leben werden als sie. Das
Zusammenspiel von strukturellen Problemen und dem Widerstand gegen
die Globalisierung erklärt die aktuellen Entwicklungen.

Fast überall ist ein Auseinanderklaffen von kosmopolitischen,
urbanen Eliten und der Bevölkerung auf dem Land zu beobachten.
Fragmentiert sich die Gesellschaft, weil sich die Menschen in
sozialen Medien und homogenen Wohnbezirken nur noch unter
Gleichgesinnten bewegen?

Lehne: Ein ganz wichtiger Faktor. Früher galt das Leitbild, dass
die Medien sich bemühen, unabhängig und objektiv zu berichten und so
ein Korrektiv zur Politik bilden. Heute ist die Medienszene derartig
zersplittert, dass sie nur noch von einander abgeschottete Blasen
bedient. Die Menschen innerhalb dieser Meinungsblasen werden eher in
ihren Vorurteilen bestärkt als herausgefordert. Das führt dazu, dass
die verschiedenen Lager die Argumente der Gegenseite gar nicht mehr
wahrnehmen, weil sie immer nur hören, was sie ohnehin schon glauben.

Hinzu kommt die Konterrevolution der Populisten gegen die
Globalisierung, gegen eine Welt ohne Grenzen?

Lehne: Ja, wobei das kein modernes Phänomen ist. Der Begriff
Populisten entstand in den 90er-Jahren des 19. Jahrhunderts, als sich
in den USA eine „Peoples Party“ gründete, die sich gegen Einwanderer
aus Japan und China zur Wehr setzte, die für den Eisenbahnbau
angeworben wurden. Es lassen sich durchaus auch der Erste Weltkrieg
und der Aufstieg des Faschismus in den 30er-Jahren als Aufstand gegen
Liberalisierung und Globalisierung interpretieren. Und jetzt sind wir
wieder in so einer Phase des Rückschlags. Aufgrund der Logik der
wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung wird auch dieser
Rückschlag einmal überwunden werden. Aber kein Mensch kann
voraussehen, welche Kollateralschäden inzwischen entstehen werden.

In Europa überwiegt hinsichtlich des österreichischen
Wahlergebnisses die Erleichterung. Ist das gerechtfertigt, da fast
jeder zweite Wähler für den Rechtspopulisten Hofer gestimmt hat?

Lehne: Ich denke, es ist trotzdem gerechtfertigt. Nach der
Trump-Wahl entstand ein Narrativ, nach der der Aufstieg des
Populismus nicht mehr gestoppt werden könne. Es wurde eine Art
Domino-Theorie entwickelt, nach der Österreich der nächste kleinere
Stein werden würde, gefolgt vom größeren Stein Italien und den echten
Brocken – den Parlamentswahlen in den Niederlanden, der
Präsidentschaftswahl in Frankreich und den Bundestagswahlen in
Deutschland. Aber: Der österreichische Dominostein steht noch immer.
Und Van der Bellen hat sogar dazu gewonnen. Bei der ersten Stichwahl
hatte er nur 300000 Stimmen Vorsprung, nun aber 350000. Bei der Frage
nach dem Wahlmotiv haben 65 Prozent seiner Unterstützer seine
pro-europäische Haltung genannt. Offenbar schlug das Pendel nach dem
Brexit und Trump zurück. Die Mehrheit der Österreicher will EU und
Euro beibehalten. Die Botschaft war: Wir sind zwar auch wütend, aber
nicht so sehr, dass wir uns auf Abenteuer einlassen. Und dieses
Signal wirkt über Österreich hinaus: Der Populismus kann gestoppt
werden. Die FPÖ bleibt eine starke populistische Kraft. Bei Umfragen
zur Parlamentswahl liegt sie derzeit vorne. Aber der vergangene
Sonntag brachte doch einen erheblichen Dämpfer. Vor allem musste die
Partei erkennen, dass sie mit ihrer ausgeprägten EU-Ablehnung
offensichtlich nicht dem Wählerwillen entspricht.

Was war die Hauptquelle der österreichischen Wut – der Überdruss
an der Wiener Erstarrung oder die Angst vor den Zuwanderern?

Lehne: Laut Eurobarometer gehören die Österreicher seit Jahren zu
den skeptischsten Europäern. Kommt es aber zum Schwur über einen
möglichen Austritt, sind zwei Drittel dagegen. Das Artikulieren der
Unzufriedenheit gehört eben zur österreichischen Mentalität. Dazu
kommt, dass die große Koalition, die die gesamte zweite Republik
dominiert hat, verbraucht ist. Die Spannungen zwischen SPÖ und ÖVP
nehmen zu. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, das Wachstum schwach.
Gemessen an anderen Ländern geht es dem Land weiterhin gut, doch das
Gefühl des relativen Abschwungs ist allgemein. Darüber hinaus war
auch der Flüchtlingszustrom 2015 ein Schock für das ganze System. Der
Marsch Zehntausender durch das Land erzeugte den erschreckenden
Eindruck eines Kontrollverlustes.

Matteo Renzi scheiterte an einer Koalition aus Wutbürgern,
Populisten und Reformverweigerern, wie vor ihm schon Cameron und
Clinton. Geht „vor unseren Augen die Welt unter“, wie der
französische Botschafter in den USA, Gérard Araud, twitterte?

Lehne: Im Licht der österreichischen Wahl sollten wir trotz der
eingangs geschilderten übergreifenden Probleme jedes Land gesondert
betrachten. In Italien war die Problemlage um das Referendum sicher
viel komplexer als eine Auseinandersetzung zwischen dem Populismus
und dem Mainstream. Schließlich stimmten viele Politiker der Mitte,
darunter auch der ehemalige Premier Mario Monti mit „No“. Eine große
Verantwortung trägt Renzi, der ähnlich wie David Cameron mit
Überheblichkeit und Selbstüberschätzung sein Schicksal mit dem
Ausgang des Referendums verknüpfte und damit zur Niederlage des
Reformprojekts beigetragen hat.

Ist es nicht paradox, dass die Anhänger der Fünf-Sterne wie der
Lega Nord unisono die Verkrustung des italienischen Systems
kritisieren, aber dann den in die Wüste schicken, der sie aufbrechen
wollte?

Lehne: Das ist der Polarisierung des italienischen Systems
geschuldet. Der Anfangsschwung des Reformers Renzi war längst
verpufft. Und so witterten die rivalisierenden Parteien ihre Chance
auf einen Erfolg bei den nächsten Parlamentswahlen. Allerdings werden
diese noch auf sich warten lassen, weil zunächst das Wahlgesetz
geändert werden muss, das bereits im Vorgriff auf eine reformierte
Verfassung abgeändert worden war.

Italien hatte in 70 Jahren mehr als 60 Regierungen. Fällt Italien
wieder zurück auf den Status des ewig instabilen Krisenlandes, das –
anders als Island oder Griechenland – leider zu groß ist, um unter
einen Rettungsschirm zu passen?

Lehne: Was die politische Entwicklung angeht, bin ich nicht allzu
besorgt, weil Italien eine enorme Erfahrung in der Bewältigung
komplexer Krisen hat. Die Gefahr ist im wirtschaftlichen Bereich
größer. Der Bankensektor ist nicht gesund, die Kreditinstitute haben
faule Kredite in Höhe von 350 Milliarden Euro in den Büchern.
Investoren haben wenig Vertrauen in die italienische Wirtschaft. Seit
Einführung des Euro hat das Land kaum Wachstum zu verzeichnen, was
die Skepsis der Bevölkerung schürt.

Betrachten wir die Dominosteine gesondert: Wird der Trend zur
Renationalisierung bei den Wahlen in den Niederlanden, Frankreich und
Deutschland anhalten?

Lehne: Ich gehe davon aus, dass Geert Wilders mit seiner
Freiheitspartei zwar stark abschneiden wird, aber kaum eine Chance
hat, die Regierung zu bilden. Das größte Risiko für die EU wäre ein
Wahlsieg von Marine Le Pen in Frankreich, der in ein Referendum über
den Euro und in einen „Frexit“ münden würde. Diesen Schlag könnte die
EU kaum überleben. Aber auch hier ist die Wahrscheinlichkeit nicht
allzu groß. Der Konservative Francois Fillon scheint mir der Favorit
bei den Präsidentschaftswahlen zu sein. Sollten Fillon in Frankreich
und Merkel oder der SPD-Kandidat in Deutschland gewinnen, hätten wir
in den beiden Schlüsselstaaten Europas für mehrere Jahre neu
konsolidierte, seriöse Regierungen. Und das wäre eine Chance, den
zuletzt stotternden deutsch-französischen Euro-Motor wieder
anzuwerfen, was eine Grundvoraussetzung ist, um aus der Krise zu
kommen.

Welches Angebot müsste Europa den Enttäuschten machen, damit das
Projekt Europa nicht stirbt und die Abwendung von der Demokratie
aufgehalten wird?

Lehne: Die EU war seit den Römischen Verträgen immer ein
Liberalisierungsprojekt, das liegt in ihrer DNA. Mir hat daher gut
gefallen, dass Jean-Claude Juncker in seiner Rede zur Lage der EU
betont hat, dass neben die Freiheit der Bürger auch ihr Schutz zu
treten hat. Weil diese Themen bisher vernachlässigt worden sind,
müssen jetzt Migrationsmanagement, Grenzschutz und die Sicherheits-
und Verteidigungspolitik vorangebracht werden. Schutz sollte aber
auch im Sozialen gewährt werden, etwa über eine europäische
Arbeitslosenversicherung. So würde man bei Globalisierungsverlierern
wieder an Glaubwürdigkeit gewinnen. Ebenso sollte Steuerbetrug
effizienter bekämpft werden, um die Ungleichheit zu verringern. Man
bräuchte also in verschiedenen Bereichen mehr Europa. Nur leider ist
das Klima derzeit nicht günstig für Vorstöße, um nationale
Kompetenzen zugunsten der EU zu beschneiden.

Erwischt die Krise die EU zum falschen Zeitpunkt?

Lehne: Ja, weil die EU im Begriff ist, ihre Reformfähigkeit zu
verlieren. Wegen der antieuropäischen Stimmung unter den Bürgern
können die Politiker die halbfertigen Projekte, wie den Euro oder
Schengen, nicht voranbringen. Statt die Reformen anzupacken, wursteln
die Regierungen weiter – mit unbefriedigenden Ergebnissen, was die
Anti-EU-Stimmung weiter verstärkt. Ein Teufelskreis, der die EU
laufend schwächt. Ich hoffe, dass am Ende des langen Wahljahres 2017
eine Konstellation besteht, in der die EU ihre Reformfähigkeit wieder
zurückgewinnen kann.

Das Interview führte

Joachim Zießler

Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

Original-Content von: Landeszeitung L?neburg, übermittelt durch news aktuell