Mittelbayerische Zeitung: Ein wenig mehr vom Kuchen / Die Wirtschaft wächst, es gibt weniger Arbeitslose, die Staatskassen sind voll. Alles bestens, oder? Nein, denn viele Bürger profitieren nicht vom Wohlstandszugewinn.

Es klingt prächtig: Die Exporte befinden sich
auf Rekordhoch, die Auftragsbücher deutscher Unternehmen sind gut
gefüllt und die Arbeitslosigkeit ist niedrig. Auch die
Staatsverschuldung sinkt und die öffentlichen Kassen sind dank hoher
Steuereinnahmen voll. Kanzlerin Angela Merkel betont gern, wie gut es
den Menschen in Deutschland doch geht. Ja, der materielle Wohlstand
ist groß. Nur: Davon profitieren längst nicht alle Bürger. Gerade
Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen haben es immer
schwerer, sich aus eigener Kraft hochzuarbeiten. Frühere Generationen
konnten mit einem Arbeitseinkommen eine ganze Familie ernähren. Eine
Rente reichte meist für zwei. Heute braucht es immer öfter zwei
Einkommen, um Miete, Wohneigentum und Lebensstandard zu finanzieren.
So nehmen zum Beispiel die Kosten für Gesundheitsleistungen seit
Jahren zu. Brillen oder Erkältungsmedikamente gibt es schon lange
nicht mehr auf Rezept. Und alle paar Jahre eine Kur, die die
Krankenversicherung bezahlt? Das war einmal. Auch die Rentenbeiträge
steigen stetig, während das Rentenniveau gleichzeitig sinkt und
Arbeitnehmer noch dazu immer länger arbeiten müssen. Private Vorsorge
ist das neue Zauberwort, um im Alter genügend Geld zur Verfügung zu
haben. Nur: Wie soll das gelingen, wenn der Alltag kaum Luft zum
Sparen lässt? Dazu kommt: Wer heute Geld auf die hohe Kante legt,
bekommt dafür keine Zinsen. Die Niedrigzinsphase ist längst zum
Dauerzustand geworden. Wer erinnert sich noch an die Zeiten, als man
Ersparnisse auf ein Sparbuch einzahlte und dafür zeitweise Zinsen von
mehr als vier Prozent bekam? Festverzinsliche Wertpapiere und
Staatsanleihen waren eine sichere und rentable Anlageform für den
kleinen Mann. Das ist vorbei. Heute gleichen Zinsen, wenn überhaupt
welche gezahlt werden, nicht einmal die Inflationsrate aus. So macht
jeder, der sein Geld auf einem Sparkonto parkt, auf Dauer Verlust,
weil sein Vermögen weniger wert wird. Wer stattdessen in eine
Wohnimmobilie als Altersvorsorge investiert, kann sich im Moment über
niedrige Darlehnszinsen freuen. Baugeld ist zwar billig zu haben,
aber die Immobilienpreise sind gerade in attraktiven Ballungsräumen
wie zum Beispiel Regensburg in den vergangenen Jahren in die Höhe
geschossen. Inzwischen sind Baufinanzierungen, die sich bis zum
Renteneintritt ausdehnen, keine Seltenheit mehr. Wer sein ganzes
Erwerbsleben abbezahlen muss, steht unter gehörigem Druck. Das
verschärft auch die Abhängigkeit vom Arbeitgeber. Dazu kommt, dass
sich auch die Berufswelt stetig wandelt, doch entscheidende
Verbesserungen der Arbeitsbedingungen liegen schon lange zurück.
Während frühere Generationen oft ein Leben lang bei einer Firma
waren, verlangt der Arbeitsmarkt heute Flexibilität und Mobilität –
bei obendrein immer mehr befristeten Arbeitsverträgen. Ein Studium
ist längst kein Garant mehr für eine, auch finanziell, attraktive
Karriere. Hochschulabsolventen machen heute häufig erstmal Praktika.
Die soziale Marktwirtschaft ist mit dem Versprechen angetreten, dass
Marktfreiheit mit sozialem Ausgleich und Teilhabe einherzugehen hat.
Eine Bertelsmann-Studie aus dem vergangenen Jahr konstatiert, dass
seit der Wiedervereinigung das Wirtschaftswachstum bei den untersten
40 Prozent der Einkommen nicht ankommt. Demnach schrumpft die
Mittelklasse, die Einkommensungerechtigkeit nimmt zu und das Risiko,
arm zu werden, steigt. Es geht nicht darum, Fortschritt schlecht zu
reden. Im Gegenteil: Er sollte nur möglichst vielen Menschen
zugutekommen. Im Amtseid hat die Kanzlerin geschworen, ihre Kraft
„dem Wohle des deutschen Volkes“ zu widmen. Dem ganzen Volk,
wohlgemerkt.

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