Mittelbayerische Zeitung: Europa braucht die USA: Die transatlantische Freihandelszone ist wichtig – auch wenn die Schnüffelaffäre viele wütend macht. Von Thomas Spang

Fast wäre es schiefgegangen. Das ehrgeizige
Projekt einer transatlantischen Freihandelszone (TTIP) drohte wegen
der Schnüffelaffäre zu scheitern, bevor die eigentlichen
Verhandlungen begonnen hatten. Empörte Politiker forderten den
Verzicht, mindestens aber die Verschiebung der Gespräche über die
größte Freihandelszone der Welt, in der fast ein Drittel aller Waren
und Dienstleistungen ausgetauscht werden. Die Wut angesichts der
dreisten Bespitzelung von Regierungen und Bevölkerung durch den
amerikanischen Geheimdienst NSA ist mehr als verständlich. Nur
geholfen hätte es den Europäern nicht. Die dümpelnde Wirtschaft hier
braucht die Wachstumsimpulse mehr als die der USA. Das
transatlantische Freihandelsabkommen liegt im nationalen Interesse
der EU-Mitgliedsstaaten, die wenig Spielraum für andere Stimuli
haben. Laut einer Studie des „Center for Economic Policy Research“
werden 80 Prozent des Wachstums vom Abbau sogenannter nicht-tarifärer
Handelsschranken erwartet. Damit gemeint sind die Angleichung und
wechselseitige Anerkennung von Standards – nicht die eigentlichen
Zölle. Die fallen im transatlantischen Handel mit im Schnitt 3,5 bis
vier Prozent kaum ins Gewicht. Von einheitlichen Normen und Regeln
profitierte vor allem der Mittelstand. Anders als globale Konzerne
haben diese Unternehmen oft nicht die Ressourcen, ihre Produkte für
den US-Markt nachzurüsten, anzupassen oder erneut zertifizieren zu
lassen. Viele Geschäfte kommen dadurch gar nicht erst zustande. Für
Konzerne drücken die nicht-tarifären Handelshemmnisse auf die Margen.
So muss Daimler beispielsweise seine Luxuskarossen für den US-Markt
mit eigenen Bremsleuchten ausstatten, weil die amerikanische Norm nur
statische Lichter erlauben. Die Chemie- und Pharmaindustrie leidet
unter den kostspieligen Doppel-Zulassungen und die Baubranche unter
den „Buy American“-Bestimmungen bei öffentlichen Ausschreibungen.
Sich aus Protest gegen die Spitzleien der Amerikaner selber in den
Finger zu schneiden, wäre weder eine kluge noch erfolgversprechende
Strategie. Dass sich in diesem Fall der klare Kopf über die Wut im
Bauch durchgesetzt hat, machte den Weg frei für substanzielle
Gespräche. Ironischerweise bieten die TTIP-Verhandlungen nun auch
eine Plattform, die politische Krise um die Datenspionage zu
therapieren. Handel beruht nicht minder auf Vertrauen wie Diplomatie.
Die transatlantischen Partner haben hier die Chance, aus den
empörenden Übertreibungen der Geheimdienste zu lernen und
verbindliche Standards zu setzen. Ein starkes Datenschutzabkommen
muss deshalb oberste Priorität haben. Zugegebenermaßen macht es das
nicht leichter, den ehrgeizigen Fahrplan umzusetzen, bis Ende 2014
handfeste Ergebnisse auf dem Tisch liegen zu haben. Zudem weiß
niemand, ob es hilft oder bremst, dass diesmal erstmals zwei
Wirtschaftsblöcke auf Augenhöhe miteinander verhandeln. Einerseits
liegen das Einkommensniveau, die Vorstellungen über Sicherheit und
Produktnormen, soziale und ökologische Standards nicht so weit
auseinander wie bei anderen Abkommen. Andererseits gibt es
festgefahrene Fronten. Vom Dauerstreit um Chemie-Hühnchen,
Hormon-Rinder und Gen-Mais bis hin zur Kulturförderung. In weiser
Voraussicht haben beide Seiten das Mandat für die Verhandlungen weit
gefasst. Das gibt den 150 Unterhändlern maximalen Spielraum für
Kompromisse. Hoffentlich nutzen sie ihn – für freien und fairen
Handel über den Atlantik, der auf dem Schutz vertraulicher Daten von
Bürgern und Unternehmen gründet.

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