Mittelbayerische Zeitung: Gaddafis Komplizen Leitartikel zur Haltung der EU gegenüber Libyen

Die Opfer des Volksaufstands in Libyen klagen
den Westen an: Das Blut der getöteten Demonstranten klebt nicht nur
an den Händen Gaddafis. Auch die ehemaligen Kolonialherren aus Europa
und die ölsüchtigen Amerikaner haben sich mit ihrer schizophrenen
Haltung gegenüber dem Folter-Regime schmutzig gemacht. Denn sie waren
es, die den Erzterroristen nicht nur wieder salonfähig machten,
sondern seinen Unrechtsstaat auch noch mit Milliardensummen und
Waffen unterstützten. Eigentlich müsste ein Verbrecher wie Gaddafi
seit langem mit internationalem Haftbefehl verfolgt werden, um ihn
vor ein Weltstrafgericht zu stellen. Spätestens seit den von Libyen
gesteuerten Anschlägen von Lockerbie und auf die Berliner Diskothek
La Belle in den 80er Jahren hat sich der Diktator zum internationalen
Paria gemacht. Doch anstatt ihn konsequent zu isolieren, gestattete
man ihm, sich 2003 mit einer Ablasszahlung an die Attentatsopfer
freizukaufen. Seither hofieren westliche Politiker Gaddafi, damit
internationale Konzerne lukrative Geschäfte mit dem erdölreichen Land
einfädeln können. Und schlimmer noch: Sie zahlen dem Schurken sogar
noch eine Art Kopfprämie, damit er den Zustrom von Flüchtlingen aus
dem schwarzen Kontinent nach Europa unterbindet. Die Rolle der
EU-Länder bei der Entwicklung in Libyen ist beschämend und ein
Eingeständnis des eigenen Unvermögens. Erst nachdem Gaddafi zum Krieg
gegen sein Volk aufrief, konnten sich einige europäische Staats- und
Regierungschefs zu scharfen Worten gegenüber dem Despoten
durchringen. Doch vor allem geht es ihnen darum, dass die Araber in
Afrika eingesperrt bleiben. Bloß kein zweiter Exodus nach Europa wie
aus Tunesien, lautet die Kernbotschaft. Angesichts der Verbrechen
Gaddafis ist diese Haltung erbärmlich. Leider verbindet diese
europäische Mauer-Mentalität auch noch Politiker, die ansonsten
getrennte Wege gehen: Bundeskanzlerin Angela Merkel unterscheidet
sich in der Flüchtlingsfrage nicht von der Position des italienischen
Operetten-Präsidenten Silvio Berlusconi, Gaddafis bestem Busenfreund.
Dass der Sohn des Revolutionsführers während seines langjährigen
Aufenthalts in München Schutz vor Strafverfolgung genoss, obwohl ihm
Waffenschmuggel und andere gravierende Delikte vorgeworfen werden,
mag dabei wie eine Petitesse wirken. Aber dies zeigt, wie weit der
Arm von Gaddafis Clan reichen konnte, weil ihm niemand auf die Finger
klopfte. Zu lange machte sich die EU zum Komplizen der
nordafrikanischen Despoten. Die Europäer richteten ihr Handeln
ausschließlich darauf aus, den Status quo mit Hilfe der Gaddafis,
Mubaraks & Co zu bewahren – um einer vermeintlichen Stabilität
willen. Nachdem nun ein Potentat nach dem anderen vom Thron gestoßen
wird, bricht diese eindimensionale Außenpolitik wie ein Kartenhaus
zusammen. Das erklärt auch, warum die EU seit Beginn der arabischen
Revolution in Tunesien den Ereignissen in Nordafrika immer um viele
Schritte hinterherhinkt. Und es macht deutlich, wie sehr Europa eine
gemeinsame Außenpolitik bräuchte. Davon sind die EU-Staaten aber noch
Lichtjahre entfernt, weil nationale Egoismen und imperialistische
Phantasien fröhliche Urstände feiern. Das einzig Verbindende in der
Afrika-Frage ist die Absicht, Europa zu einer Festung gegen Migranten
auszubauen. Damit verspielt der alte Kontinent seinen letzten Rest an
Glaubwürdigkeit in der arabischen Welt. Die schönen Angebote, ein
bisschen Nachhilfe in Sachen Demokratie zu geben, wirken wie ein
Märchen aus Tausendundeiner Nacht.

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