Mittelbayerische Zeitung: Grandios gescheitert / Mit dem Referendum wollte Ungarns Staatschef Orban ein Zeichen gegen die EU-Flüchtlingspolitik setzen.

Viele politische Analytiker halten den
ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban für einen Autokraten,
einen Selbstherrscher. Andere nennen ihn einen nationalistischen
Populisten, einen Mann des Volkes, der nicht von oben herab, sondern
im Einverständnis mit den Menschen regiert. Das Referendum gegen die
EU-Flüchtlingspolitik am Sonntag war Orbans Versuch, die beiden
Regierungsformen miteinander in Einklang zu bringen. Er ist damit
grandios gescheitert. Daran ändert auch die sagenhafte Quote von 98,3
Prozent Nein-Stimmen nichts. Weniger als 40 Prozent gültige
Stimmzettel bedeuten unter dem Strich, dass nur eine klare Minderheit
der Wahlberechtigten im Sinne Orbans gegen die EU votiert hat. Diese
erfreuliche Verweigerung der Ungarn ist umso erstaunlicher, als sich
in Umfragen 80 oder mehr Prozent der Bürger gegen eine Aufnahme von
Asylsuchenden im Land der Magyaren aussprechen, die übrigens im
Mittelalter selbst ein Reitervolk waren, das aus den Weiten Sibiriens
kommend in das Karpatenbecken einwanderte. Orban ging es in seinem
Referendum darum, ein weithin sichtbares Zeichen nicht nur gegen die
Brüsseler Flüchtlingspolitik, sondern auch für mehr nationale
Souveränität der Mitgliedsstaaten in der EU zu setzen. Dafür hat
seine Regierung Dutzende Millionen an Steuergeldern verpulvert, um
die eigenen Bürger zu indoktrinieren und an die Urnen zu locken.
Tausende TV-Spots wurden gesendet, das ganze Land wurde mit
Plakatwerbung zugekleistert. Angesichts dieser Totalmobilmachung ist
das Ergebnis für Orban verheerend schwach. Über die Gründe für das
Abstimmungsverhalten der Ungarn kann man lange spekulieren. Manches
spricht dafür, dass den Stimmverweigerern die Flüchtlingspolitik am
Ende doch nicht wichtig genug war, um dafür den Sonntagsspaziergang
ins Wahllokal umzulenken. Tatsächlich ist der Zustrom von
Asylsuchenden über die Balkanroute nicht zuletzt angesichts der
martialischen Bollwerke, die Orban an den Grenzen errichten ließ,
fast zum Erliegen gekommen. Vielleicht war eine Mehrheit der Ungarn
auch klug genug, um zu verstehen, dass dieses Referendum nicht nur
gegen die eigene Verfassung verstieß, weil dort die Bindungswirkung
internationaler Verträge festgeschrieben ist. Die Bürger haben
vermutlich auch begriffen, dass die Abstimmung faktisch bedeutungslos
war. Die EU hat ja leider längst klein beigegeben und erkennen
lassen, dass sie Ungarn nicht einmal die 2300 Flüchtlinge zuweisen
wird, die das Land laut verabredeter Quote aufnehmen sollte. Im
besten Fall wollten die Nichtwähler ihrem Regierungschef nicht in
seinem Kreuzzug gegen „die Brüsseler Reichsbürokratie“ folgen, von
der Orban unlängst schwadronierte und sich dabei in beschämender
Weise in der Wortwahl vergriff. Der Ministerpräsident seinerseits
wird aus dem Abstimmungsdesaster seine eigenen Schlussfolgerungen
ziehen. Mit der Umdeutung der Zahlen zu einem „herausragenden
Ergebnis“ hat er bereits begonnen. Er wird sich auch im Streit mit
der EU auf die 98,3 Prozent der Nein-Sager zu berufen versuchen. Man
kann nur hoffen, dass ihm außer dem Luxemburger Jean Asselborn
(„Ungarn aus der EU werfen“) auch andere Spitzenpolitiker endlich
einmal die Grenzen aufzeigen. Vor allem aber wird Orban aus seiner
Niederlage die Konsequenz ziehen, sich nicht mehr allzu sehr auf die
Mittel der „gelenkten Demokratie“ und auf Wahlen zu verlassen. Er
wird wohl, ähnlich wie Wladimir Putin in Russland oder Recep Tayyip
Erdogan in der Türkei, seine autokratische Macht zu festigen
versuchen. Auch in diesem Fall ist es an der EU, einer solchen
Entwicklung in einem Mitgliedsland nicht tatenlos zuzusehen.

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