Mittelbayerische Zeitung: Großreich der Unfreiheit

Von Ulrich Krökel

Erst die Ukraine, jetzt Aserbaidschan: Die Staaten der ehemaligen
Sowjetunion geraten unvermittelt ins Scheinwerferlicht der
europäischen Öffentlichkeit. Westliche Medien berichten über Folter
und Enteignungen, über die Herrschaft korrupter Politiker und
mafiaähnliche Strukturen in Wirtschaft und Gesellschaft. All das ist
keineswegs neu. Aber plötzlich gibt es Gründe, die dramatischen
Demokratiedefizite im postsowjetischen Raum zu thematisieren. Die
Politik segelt dabei vor dem Wind des Sports und der Popkultur. Es
sind die Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine und der
Eurovision Song Contest in Aserbaidschan, die für Diskussionsstoff
sorgen. „Darf man in halbdiktatorisch regierten Ländern
Großveranstaltungen wie EM und ESC abhalten, die vor allem den
Herrschenden nutzen?“ Das ist hier die Frage. Grundsätzlich
gesprochen: Ja, man darf. Andernfalls hätte man Aserbaidschan (und
Weißrussland erst recht) schon längst vom Schlagerwettbewerb und der
EM-Qualifikation ausschließen müssen. Und was ist mit Russland? Nein,
all die Boykottdiskussionen sind scheinheilig. Sie gaukeln einen
Handlungswillen vor, der in der politischen Arena fehlt. Beispiel
Aserbaidschan: Die Kaukasusrepublik verfügt über riesige Öl- und
Gasvorkommen. EU-Politiker hofieren das Regime von Ilham Alijew
deshalb seit Jahren. Sie sollten ehrlich sagen, warum sie dies tun,
statt am Rande des ESC ihr Mütchen zu kühlen. Fakt ist: Westliche
Industriestaaten sind derzeit auf Energielieferungen aus Staaten
angewiesen, deren Herrscher ihr Volk knechten. Politik beginnt mit
der Anerkennung der Realität. Zur Wirklichkeit gehört, dass sich der
Osten Europas 20 Jahre nach dem Untergang der Sowjetunion immer
weiter vom freiheitlich-demokratischen Modell des Westens entfernt.
Das betrifft nicht nur Weißrussland, die Ukraine und Aserbaidschan.
Auch in Georgien regiert mit Michail Saakaschwili ein Autokrat,
dessen proeuropäische Lippenbekenntnisse sich kaum von den hehren
Worten eines Ilham Alijew in Baku oder eines Viktor Janukowitsch in
Kiew unterscheiden. Wichtiger noch ist die Entwicklung in Russland.
Der alte und neue Kremlherrscher Wladimir Putin hat
unmissverständlich klar gemacht, dass für ihn Stabilität und Stärke
mehr zählen als Bürger- und Menschenrechte. Langfristig mag dieser
Ansatz zum Scheitern verurteilt sein, weil er die Kraft und die
Dynamik der Gesellschaft blockiert. Rechnen aber muss der Westen mit
den Gegebenheiten. Putin würde den postsowjetischen Raum am liebsten
als Eurasische Union wieder von Moskau aus beherrschen. Leicht wird
das für ihn nicht, weil Semidiktatoren wie Alijew kein Interesse
daran haben, sich dem Kreml zu unterwerfen. Das gilt auch für den
Ukrainer Janukowitsch. Aber selbst ohne eine vertiefte
institutionelle Zusammenarbeit entwickelt sich die Region zu einem
neuen Großreich der Unfreiheit. Die Ablehnung demokratischer Werte
schweißt zusammen. Der Westen hat es angesichts seiner eigenen
Schwäche nicht leicht, Einfluss zu nehmen. Unverzeihlich aber ist,
dass Europäern und Amerikanern jegliche Strategie fehlt. Besonders
deutlich wird dies im Fall der Ukraine. Seit der orangen Revolution
2004 können sich die Verantwortlichen in Brüssel und Washington nicht
entscheiden, wie sie mit dem Land umgehen wollen, das in den Augen
vieler Geopolitiker eine Schlüsselrolle im Verhältnis zwischen West
und Ost spielt. Die USA drängen die EU dazu, die Ukraine an sich zu
binden – Menschenrechte hin oder her. Das ist ein unmoralisches
Angebot und führt zu nichts, wie das Beispiel Georgien zeigt. In
Brüssel wiederum schmiedet man hehre Pläne, die Namen wie
„Assoziierungs- und Freihandelsabkommen“ tragen und nichts als faule
Kompromisse sind. Eine EU-Beitrittsperspektive für die Ukraine
schließt namentlich Deutschland aus. Dieses Verfahren nach der Devise
„Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“ kann nicht
funktionieren.

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