Mittelbayerische Zeitung: „Im Reich der Untoten“, Kommentar von Christian Kucznierz zu den Koalitionsverhandlungen

Untote zeichnen sich dadurch aus, dass sie in
einem Zwischenstadium verharren und weder leben, noch tot sind. Die
klassischen Untoten in Literatur und Film sind der Vampir und der
Zombie. Neu in ihren Reihen ist die große Koalition, und gemessen an
dem, was bislang von ihr zu sehen war, ist sie ziemlich gruselig. Die
Fakten: Die Union hat die Wahl gewonnen, kann aber nicht alleine
regieren. Die SPD hat die Wahl verloren, könnte mit Grünen und Linken
regieren, traut sich aber noch nicht. Beide Parteien sind somit ohne
einander handlungsunfähig. Bei der SPD liegt das Problem darin, dass
sie bereits einmal miterlebt hat, wie es ist, mit der Merkel-Union zu
regieren. Der Schrecken sitzt noch so tief, dass sich die Genossen
nicht mehr in das Dracula-Schloss der großen Koalition wagen, ohne
einen Holzpflock dabei zu haben. Der trägt den Namen
Mitgliederentscheid und soll dafür sorgen, dass man dem Projekt
Schwarz-Rot den Todesstoß versetzen kann, wenn es am Ende doch zu
schlimm wird. Aber selbst wenn es klappt und die 470 000
SPD-Mitglieder dem Koalitionsvertrag zustimmen, bleibt das Problem
bestehen, dass sich die SPD immer noch nicht sicher ist, wer sie sein
will. Sie ist in einem Selbstfindungsprozess, den sie nur überwinden
kann, wenn sie die Gelegenheit bekommt, ein paar ihrer Versprechen an
die Wähler in einer Regierung umzusetzen. Dabei trifft sie auf eine
Union, die sich selbst entleert hat, indem sie ihre gesamte Existenz
in zwei rautenförmig gefaltete Hände legte, in denen außer dem
Versprechen auf ein Weiterleben nicht mehr viel zu finden ist. Da
gibt es zwar Forderungen nach so sinnfreien Projekten wie der
Pkw-Maut für Ausländer oder nach so unfinanzierbaren wie der
Mütterrente. Aber sonst ist da wenig mehr. Und das muss ganz
offensichtlich auch gar nicht sein, „Mutti“ reicht, um sensationelle
Werte an den Wahlurnen zu holen. Allein: Es hat halt nicht ganz
gereicht für die absolute Mehrheit. So trifft die Union, die nicht
alleine regieren kann, auf die SPD, die mit ihr regieren will, aber
das nicht offen sagen darf, weil ihr sonst die Basis wegbricht.
Interessanter Weise erleben wir den eigentlichen Wahlkampf jetzt,
zehn Wochen nach der Wahl. Nach einem Sommer ohne inhaltliche
Auseinandersetzung ist diese auf einmal nötig und beide Seiten
stellen fest, dass sie an entscheidenden Stellen inkompatibel sind –
oder zumindest Kompromisse eingehen müssten, die aber ihren
Mitgliedern und Stammwählern kaum zu vermitteln sind. Das führt nun
dazu, dass nach Wochen ermüdender Verhandlungen in großer und kleiner
Runde immer noch mehr als 100 Punkte offen sind. Laut
Unionsfraktionschef Volker Kauder ist zudem vieles, was die
Arbeitsgruppen mühsam erstritten haben, schon jetzt Makulatur.
CDU-Chefin Angela Merkel will kommende Woche den Koalitionsvertrag
präsentieren. Sie wird das auch tun – weil am Ende alles zwischen
ihr, SPD-Chef Sigmar Gabriel und CSU-Chef Horst Seehofer ausgehandelt
wird. Das aber hätte man auch gleich so machen können, statt die
Republik über Monate zu lähmen und die Wähler abzustoßen. Denn was
derzeit in Berlin läuft, ist politisches Theater. Nur ohne
Unterhaltungswert. Am Ende wird es vielleicht etwas geben, was einem
echten Mindestlohn ähnelt, es wird irgendwas für die Mütter geben und
irgendwas, was einmal eine Pkw-Maut für Ausländer sein könnte.
Vieles, was vollmundig versprochen wurde, wird in Prüfaufträgen
landen: „Wir wollen prüfen, ob dies oder das machbar ist.“ Was nichts
anderes heißt, als dass es auf die lange Bank geschoben und vergessen
wird. Es wird wohl leider Murks sein, was zu Papier gebracht wird.
Dieser Murks wird vier Jahre halten. Ob das ein Versprechen oder eine
Drohung ist, steht auf einem anderen Blatt.

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