Mittelbayerische Zeitung: Kommentar zu Martin Schulz

Auf Höhenflug

von Reinhard Zweigler, MZ

Ein „Sausack“ sei er in seiner Jugend gewesen, sagt Martin Schulz
von sich. Wegen schlechter Leistungen ging er ohne Abitur von der
Schule ab. Eine Karriere als Profifußballer verhinderte ein kaputtes
Knie. Dann suchte er Heil im Alkohol. Doch der neue Stern am Himmel
der SPD kriegte seinerzeit die Kurve, trinkt keinen Alkohol mehr,
lernte Buchhändler, engagierte sich in der Kommunalpolitik – und
stieg schließlich zum streitbaren Chef des Europaparlaments auf.
Vielleicht ist es genau diese gebrochene Biografie eines Mannes, der
strauchelte, aber von selbst wieder aufstand, die das Publikum
elektrisieren kann. In der Sozialdemokratie jedenfalls hat Schulz mit
seiner Nominierung praktisch im Handumdrehen Bremsen gelöst,
Zuversicht geweckt, Selbstvertrauen aufleben lassen. Der Mann aus
Würselen haucht einer Partei gleichsam neues Leben ein, die sich
bereits mit der Agonie unter Sigmar Gabriel und der drohenden vierten
Wahlschlappe bei Bundestagswahlen in Folge abzufinden schien.
Spätestens seit dem Wahlsieg von Donald Trump wissen wir, wie wenig
verlässlich Prognosen sind und wie sehr es auf die konkrete Person
ankommt. Martin Schulz könnte die Antwort der SPD auf Trump, Brexit
und AfD sein. So hofft man bei den Genossen zumindest. Der jetzige
überraschende Höhenflug der Sozialdemokratie hat dabei nicht nur mit
der Person des – in der deutschen Innenpolitik – nahezu
unverbrauchten Martin Schulz zu tun, sondern auch mit der tiefen
Sehnsucht nach Erfolg. Freilich ist noch nicht ausgemacht, ob die
Partei mit Schulz womöglich nur ein politisches Strohfeuer erlebt,
das nach kurzem Auflodern rasch wieder erlischt. Nach der Verkündung
der Merkel-Herausforderer Steinmeier und Steinbrück hat man dies
erlebt. Oder ob der Schub, den die Nominierung von Schulz bereits
jetzt auslöste, von Dauer, also zumindest nachhaltig bis zur
Bundestagswahl im September sein wird. Aufschlussreich ist allerdings
auch das Umfrageergebnis, das etwa zwei Drittel der Deutschen „Mister
EU“ politisch für ein nahezu unbeschriebenes Blatt halten. Schulz
wird im Wahlkampf nicht nur mit seiner Authentizität, seiner
Klartext-Rhetorik punkten können, sondern er wird liefern müssen.
Inhaltlich muss er die glaubwürdige Alternative zur, zumindest
angeschlagenen, Angela Merkel sein. Eine schwere Aufgabe. Die Crux
für Schulz und seine Partei insgesamt ist, dass das
Gerechtigkeitsthema schon lange nicht mehr allein der SPD gehört. Die
Linke fordert viel forscher Umverteilung von oben nach unten. Die
Grünen tun das ebenfalls. Und selbst die Union, vor allem die CDU,
hat das Gerechtigkeitsthema entdeckt. Man schaue sich nur deren
Rentenpolitik an. Auch die AfD fischt mit populistischen Parolen im
Teich, den eigentlich die SPD für sich allein beansprucht hatte. Wie
Schulz bei so viel politischer Konkurrenz von allen Seiten den
„Markenkern“ der SPD herausstellen will, ist ein Rätsel. Gegen die
Union, die wahrscheinlich die innere Sicherheit hoch hängen wird,
steht Schulz ziemlich blank da. Hinzu kommt, dass die SPD auch mit
Schulz keine wirkliche Machtoption besitzt. Mit der Vision von
Rot-Rot-Grün auf Bundesebene würden Wähler aus der Mitte eher
verschreckt. Davon abgesehen, würde ein solches Dreierbündnis
vermutlich von den Wahlergebnissen her keine Chance haben. Ähnlich
vage erscheint ein rot-grün-gelbes Dreierbündnis, wie es derzeit in
Mainz regiert. Dass ein Kanzler Schulz die widerstrebenden Partner
Grüne und Liberale zusammen halten kann, erscheint äußerst fraglich.
Bis zur Bundestagswahl kann aber noch viel geschehen. Auch anderswo
haben „Sausäcke“ schon Wahlen gewonnen.

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