Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel zuÖzil: Ein Scherbenhaufen von Christian Kucznierz

Wir haben in Deutschland ein
Integrationsproblem. Wer das leugnet, hat noch nie genau hingesehen
oder hingehört, wie Deutsche über Nicht-Deutsche reden – oder mit
ihnen. Er hat auch nicht genau aufgepasst, wie viele Menschen mit
Migrationshintergrund auch in der zweiten oder dritten Generation
nicht in Deutschland angekommen sind – oder wie ihnen die Ankunft
schwer gemacht wird. Diese Probleme gibt es nicht erst, seit Mesut
Özil sie nun als Grund für seinen Rückzug aus der
Fußballnationalmannschaft angegeben hat. Tragisch an der Causa Özil
ist, dass er zurecht als Musterbeispiel für Integration galt, als
Vorbild, aber auch als Beispiel dafür, wie schwer es für Menschen mit
Migrationshintergrund immer noch ist, in Deutschland akzeptiert zu
werden. Und nun hat er, das Vorbild, das Thema Integration für seine
Zwecke instrumentalisiert – und sich instrumentalisieren lassen. Der
Anruf des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan bei Özil,
in dem er sich hinter dessen Entscheidung gestellt hat, beweist das.
Wenn Özil wirklich vorhatte, mit seinem Rücktritt die
Integrationsdebatte in Deutschland zu befeuern, dann hat er ihr
spätestens jetzt einen Bärendienst erwiesen. Es gibt Rassismus in
Deutschland, und der ist in diesen Wochen und Monaten mit einer
Heftigkeit zutage getreten, die man nicht für möglich gehalten hat.
Da skandieren Menschen ernsthaft öffentlich, man möge Flüchtlinge
ertrinken lassen. Es gibt diesen Rassismus aber auch im Alltag.
Zurecht schreibt Özil, wenn das Team gewinne, sei er Deutscher, wenn
nicht, Immigrant. Diesen Vorwurf, nur dann der gute Migrant zu sein,
wenn man die Erwartungen erfülle, kennen nicht nur Sportler. Die
Zeitungen sind im Moment voller Geschichten von Menschen, die diese
Alltagsdiskriminierung belegen – etwa im Beruf, aber auch bei der
Wohnungssuche. Manchmal reicht nur der falsche Nachname, um komisch
angeschaut und dumm angesprochen zu werden. Es ist unbestritten, dass
sich in die Kritik an Özil eine Art von rassistischer Hetze gemischt
hat, die viele viel eher und viel heftiger reagieren hätte lassen,
als den Ex-Nationalspieler, der wochenlang schwieg. Zu urteilen, ob
dieses Warten taktisch war oder nicht, verbietet sich für jeden, der
noch nie Opfer einer Hetz- und Hasskampagne gewesen ist, wie Özil sie
erfahren hat. Was aber nicht stimmt, ist, dass die Kritik an Özil
unberechtigt ist. Der Anruf Erdogans zeigt genau das. Der türkische
Präsident ist an einer Spaltung wenn nicht der deutschen, dann
zumindest der deutsch-türkischen Gesellschaft interessiert, weil sie
ihm hilft, Wahlen zu gewinnen. Zur Erinnerung: Die Ergebnisse für
Erdogan bei Türken in Deutschland waren höher als im eigenen Land.
Wir haben Defizite in der Integration in Deutschland, weil die
Politik dieses Land nie als Einwanderungsland definiert hat.
Integration ist ein Schlagwort geblieben, das nie mit Inhalten
gefüllt wurde. Wann ist ein Mensch bei uns integriert? Wenn er sich
den Werten des Grundgesetzes verpflichtet fühlt und den Regeln
unseres Zusammenlebens entspricht? Das gilt für viele
türkischstämmige Menschen, die trotzdem Erdogan gewählt haben. Macht
sie das zu schlechten Deutschen oder guten Türken? Die Tatsache, dass
sich solche Fragen stellen, spielt Nationalisten in die Hände,
Erdogan ebenso wie der AfD. Wir können in Deutschland gerne über Wege
zu einer gelungenen Integration sprechen und wir müssen dringend über
Alltagsrassismus diskutieren. Aber das müssten wir schon lange. Und
nicht erst, weil ein Fußballer seinen Fehler nicht eingestehen will
und lieber eine Debatte lostritt, die durch die Dummheit, ein Foto
mit einem Despoten zu machen, nicht im Geringsten gerechtfertigt ist.

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