Ein Kompromiss sei nur dann gerecht, brauchbar
und dauerhaft, wenn beide Parteien damit gleich unzufrieden wären,
meinte einst der in Fürth geborene ehemalige US-Außenminister Henry
Kissinger. So gesehen könnte das gestern unterzeichnete 177-seitige
Vertragspapier für die nächste Koalition von Union und SPD Grundlage
für eine dauerhafte, brauchbare Bundesregierung sein. Es gibt viele
Punkte, mit denen CDU und CSU unzufrieden sind. Etwa mit der
Ressortverteilung und dem Verlust des Finanzministeriums, der tief
ins Selbstverständnis der Union einschnitt. Aus Sicht des
Juniorpartners SPD ist das umgekehrt allerdings genau so. Man hat
etwa die de facto Obergrenze beim Flüchtlings-Zuzug und anderes mehr
schlucken müssen. Doch ob und wer sich in den vielen einzelnen
Politikfeldern letztlich durchgesetzt hat, ist eine müßige und wenig
sinnvolle Operation. Wichtiger ist, dass Deutschland 170 Tage nach
der Bundestagswahl nun endlich wieder eine handlungsfähige
Bundesregierung bekommt. Nun mag mancher meinen, ohne Regierung ging
es eigentlich die letzten Monate auch ganz gut. Daran ist ja etwas
dran, doch bei genauerem Hinsehen offenbaren sich viele Leerstellen,
die eine lediglich amtierende Bundesregierung nicht ausfüllen konnte.
Der Stillstand, etwa in der Europa-Politik, ist nicht länger
hinzunehmen. Nicht nur das politische Gewicht Deutschlands in der
internationalen Arena, auch das Ansehen des gewichtigsten Landes
innerhalb der EU haben gehörig gelitten. Dass in Berlin – hoffentlich
– wieder ernsthaft regiert wird, ist mit Blick auf die Verwerfungen
in der Welt bereits ein Wert an sich. Deutschland kann und darf nicht
weiter Politik mit angezogener Handbremse betreiben. Die Welt hat
nicht darauf gewartet, bis sich in Deutschland endlich eine neue
Regierung formierte. Und wie schnell Entwicklungen verlaufen können,
sieht man etwa an Donald Trumps unverhohlenen Drohungen mit einem
Handelskrieg gegen Europa. Im dicken Koalitionspapier, das vor einem
Monat fertiggestellt wurde, konnte ein solches Problem noch niemand
vorhersehen. Will heißen, ein Koalitionsvertrag ist eine
unverzichtbare Grundlage für Regierungshandeln für die nächsten vier
Jahre. In Stein gemeißelt ist er allerdings nicht. Auch in Zukunft
werden aktuelle, zum Teil jähe Entwicklungen rasches Handeln
erfordern. Das Kunststück wird dabei darin bestehen, dass sich die
schwarz-rote Koalition auch bei Ad-hoc-Entscheidungen vom Geist des
Koalitionsvertrages leiten lässt. Wie belastbar das neue, alte
Regierunsbündnis ist, muss sich erst noch beweisen, wenn das Land in
schwereres Fahrwasser gerät. Dabei sind bereits die heutigen Probleme
des Landes keine Lappalien. Viele greift die neue, kleinere GroKo
auf. Von der Flüchtlingspolitik, die viele Einheimische überfordert
und ängstigt, der Digitalisierung, die Chance und Risiko für den
eigenen Job zugleich sein kann, bis zum dramatischen Mangel an
bezahlbaren Wohnungen in vielen Großstädten. Manches wird allerdings
nur halbherzig, manches gar nicht angegangen. In der Rentenpolitik
etwa begnügte sich die Koalition mit einigen besitzstandswahrenden
Veränderungen. Das derzeitige satte Plus in den Rentenkassen
vernebelt den Blick auf die Probleme, etwa der Altersarmut, in den
nächsten Jahren. Horst Seehofer jedenfalls hat gestern deutlich
gemacht, dass seine Partei künftig so etwas wie das soziale Gewissen
der GroKo, der Anwalt der kleinen Leute sein will. Und das hat
hoffentlich nicht nur mit der Landtagswahl im Freistaat am 14.
Oktober zu tun, sondern mit der nachhaltigen Rückbesinnung auf das
Soziale im Parteinamen. Ab morgen muss der neue
Innen-Heimat-und-Bau-Minister allerdings liefern. Den großspurigen
Versprechen müssen spürbare Taten folgen. Denn anders kann dramatisch
verlorenes Vertrauen der Menschen in „die da oben“ nicht
zurückgewonnen werden.
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