Von Stefan Stark
Wäre die Griechenland-Reise der Kanzlerin tatsächlich ein reiner
Routinebesuch – wie die Bundesregierung in gespielter Bescheidenheit
behauptet – müsste man fragen, warum Angela Merkel nicht zu Hause
bleibt. In der Tat erscheint der zu erwartende Ablauf des Treffens
ernüchternd: Der Gast bringt kein greifbares Geschenk mit, der
Gastgeber serviert nur alte Kamellen. Übertragen auf das heutige
Treffen in Athen heißt das, weitere Geldkoffer bleiben in Berlin, und
Griechenland wird kein neues Sparpaket auftischen. Außer Spesen für
den Großeinsatz der Polizei unter der Akropolis also nichts gewesen?
Die Tatsache, dass sich Merkel nun erstmals seit Ausbruch der
Euro-Krise in die Höhle des Löwen traut, verleiht dem Besuch das
Prädikat des Besonderen. Bislang bevorzugte die Kanzlerin Mahnungen
und Maßregelungen aus der Ferne. Dabei bewies sie mehrfach – wie beim
Sturz der Regierung Papandreou – wie weit ihr Arm reicht. Dass sie
sich nun ins vermeintliche Epizentrum der Schulden-Malaise wagt – von
den normalen Bürgern streng abgeschirmt durch eine Phalanx von
Sicherheitskräften – besitzt Symbolkraft, die sich außerhalb
jeglicher Routine bewegt. Europa blickt auf Athen. Halten sich die
Proteste in erträglichen Grenzen? Oder werden die Demonstranten das
Regierungsviertel in Schutt und Asche legen? Eine Eskalation
jedenfalls würden diejenigen genüsslich ausschlachten, die an
Griechenland gerne ein Exempel statuierten. Doch egal, was sich heute
Abend in den Straßen von Athen abspielt, sollte man kühlen Kopf
bewahren. Die meisten Griechen wissen sehr wohl, dass die
jahrzehntelange Misswirtschaft der eigenen Politiker für die Krise
verantwortlich ist. Und dass radikale Kreise – links wie rechts – die
Kanzlerin als Sündenbock missbrauchen. In dem Maße, wie die
Protestmärsche unter besonderer Beobachtung stehen, wird auch jeder
Schritt und Tritt Merkels beäugt. Die Griechen werden jeden
Buchstaben, jeden Wimpernschlag der Kanzlerin auf die Goldwaage
legen. In diesem Balanceakt liegt die Herausforderung ihrer Reise,
besonders wegen des eindringlichen Hilferufs von Antonis Samaras.
Seine Warnung, dass sich Griechenland dem Zustand Deutschlands vor
dem Ende der Weimarer Republik nähere, sollte man ernst nehmen. Auf
der einen Seite steht ein Heer von Griechen, das in die Verarmung
steuert. Jugendliche, die nie eine Aussicht auf einen Job haben,
falls sie im Land bleiben. Kranke, die teure Medikamente selbst
bezahlen müssen. Polizisten, die heute zum Schutz Merkels ihren Kopf
hinhalten müssen – für 700 Euro im Monat. Auf der anderen Seite
stehen die Millionäre und Milliardäre, die weiter Champagnerpartys
auf ihren Luxusjachten feiern, aber keine Steuern bezahlen. Und
dahinter steht ein unfähiger bürokratischer Apparat, der den Kleinen
wegen des Spardrucks alles nimmt, aber die Privilegierten weiter
schont. Aus dieser sozialen Schieflage können sehr schnell
gefährliche Verwerfungen entstehen. Dieses Problem hat Samaras
richtig erkannt. Für sein politisches Überleben ist es wichtig, dass
ihm die Kanzlerin heute Rückendeckung für seinen Sparkurs gibt und
dem griechischen Volk Zuspruch und Anerkennung für seine Opfer
ausspricht. Man kann sich allerdings auch zu Tode sparen. Die
Griechen bekommen das im eigenen Land gnadenlos zu spüren. So richtig
der Reformdruck sein mag: Die Menschen brauchen Hoffnung und eine
Perspektive, wie die Abwärtsspirale gestoppt werden kann. Sonst wird
der griechische Patient nie gesund. Merkel könnte einen Beitrag
leisten, wenn sie nicht nur Seelenmassage betreibt, sondern auch
unangenehme Dinge beim Namen nennt: Etwa, dass die wahren
Reformverhinderer nach wie vor im griechischen Establishment sitzen.
Den Herren Samaras & Co. könnte das schneller auf die Sprünge helfen.
Die Reise der Kanzlerin wäre dann nicht völlig umsonst.
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