„West“ oder „Ost“ ist nicht mehr die
entscheidende Frage
20 Jahre deutsche Einheit. Halb so lang, wie die DDR bestand. Ein
Wimpernschlag im Lauf der Geschichte.
Seit der Wiedervereinigung sind in Deutschland bald 15 Millionen
Kinder geboren worden. Menschen, die die friedliche Revolution im
Osten Deutschlands, den Mauerfall am 9. November 1989 und den
unendlichen Jubel über das Ende eines Unrechtsstaates nur als ein
Stück Geschichte nacherleben können. Für sie ist ein Staat
Vergangenheit, der keine Meinungs- und Reisefreiheit, keine
unabhängigen Gerichte kannte. Der über seine wirtschaftlichen
Verhältnisse lebte, seinen Bürgern soziale Sicherheit auf niedrigem
Niveau bot und sie dazu bespitzelte.
Eine Selbstverständlichkeit ist für viele Heranwachsende das
vereinte Deutschland geworden, das kein einheitliches ist. Wessi –
Ossi, diese Begrifflichkeit wird bleiben. Na und? Was wäre
Deutschland ohne die innige Zuneigung zwischen Bayern und Preußen,
zwischen Köln und Düsseldorf? Bitte keine Gleichmacherei! Und kein
Wehklagen, dass viele Westdeutsche den Osten Deutschlands noch nicht
besucht haben. Wie viele Niedersachsen etwa kennen das Saarland?
Blühende Landschaften, die Einheitskanzler Helmut Kohl den
ostdeutschen Ländern versprach, gibt es. Aber nicht flächendeckend
trotz der Riesensummen, die mit fallender Tendenz in den Aufbau Ost
fließen. Knapp neun Milliarden überweist der Bund im Rahmen des
Solidarpakts II allein in diesem Jahr. 2019 ist damit Schluss. Es
sind Summen, die im Vergleich zu den Milliarden, die zur Rettung des
internationalen Finanzsystems oder der deutschen Landesbanken
flossen, keinen Schrecken mehr verbreiten. Das Geld ist gut angelegt.
Dies galt auch für den Solidaritätszuschlag, der zur Finanzierung
der deutschen Einheit erhoben wurde. Heute freut sich der Bund über
diese frei verfügbaren Mittel, die längst nicht mehr nur für den
Aufbau Ost benutzt werden. Das ist ein Etikettenschwindel.
Die spezifischen, oft unterschätzten Probleme der Anfangsjahre des
vereinten Deutschlands, die Enttäuschungen und berechtigten
Frustrationen vieler Ostdeutscher – das alles wird sich irgendwann
auswachsen. Es ist eine wenig hilfreiche Erkenntnis für die, die sich
heute als wirtschaftliche Verlierer der Einheit fühlen.
Die Vereinigungseuphorie ist längst einer kritisch-nüchternen
Betrachtungsweise gewichen. Grund zum Feiern gibt es trotzdem.
Deutschland hat die historische Chance der Einheit gut genutzt, kann
seine Kraft anderen Themen widmen. Denn die zentralen Fragestellungen
der Zukunft sind andere, wie der Blick auf die Tagespolitik zeigt.
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