Bürger auf den Barrikaden
Der erbitterte Streit um Stuttgart 21, der frenetische Beifall für
Thilo Sarrazin, die aufflammenden Gorleben-Demos: Manch einer feiert
angesichts solcher Nachrichten die Geburt einer neuen Protestkultur.
Das ist übertrieben. Die Frust-Strömungen sind gar nicht so
besonders, wie sie wirken. Minderheiten geben sich als Mehrheit aus,
indem sie einfach lauter sind. Außerdem, Großdemos gegen Fremdenhass,
Begriffe wie Wackersdorf, Startbahn West und Pershing 2 – man braucht
nicht lange zurückzublicken, um zu sehen: So neu ist weder das
Phänomen Massenprotest noch der Einsatz von Wasserwerfer und Reizgas,
ob nun verhältnismäßig oder nicht.
In Anlehnung daran versucht sich Stuttgart ein wenig an
Legendenbildung. Die Großdemos der Vergangenheit fußten aber auf
breiten gesellschaftlichen Überzeugungen. In Stuttgart ist das nicht
der Fall: Maßgeblich befeuert durch die beachtliche Arroganz
erfolgsverwöhnter Südwest-Politiker, speist sich der Unmut aus einer
Vielzahl Quellen. Umweltschutz ist es hier, Kritik an Großmannssucht
da, Parteipolitik beim einen, notorische Bahn-Kritik beim anderen.
Dem Nächsten ist der Anlass egal, er berauscht sich am Gefühl,
Anschluss und eine Aufgabe gefunden zu haben. Dieser Mix ist aber
keine gemeinsame Haltung. Wie der Streit eskalierte, kann einmal
lohnendes Forschungsthema für Politologen und Psychologen sein. Der
Beginn einer neuen Ära bürgerlichen Selbstbewusstseins ist es nicht.
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