Neue Westfälische (Bielefeld): KOMMENTAR Landtagswahlen Denkzettel THOMAS SEIM

Gut möglich, dass wir bei den Landtagswahlen
eine Art Zeitenwende gesehen haben. Bis zuletzt gab es keine Klarheit
über den Wahlausgang in Baden-Württemberg. Klarheit gab es aber sehr
wohl in anderen Punkten. Erster Denkzettel: Die Menschen wollen keine
Atomkraft in unserem Land. Zweiter Denkzettel: Die Wählerinnen und
Wähler haben selbstherrliche und vor allem selbstgefällige Politik
abgestraft. Dritter Denkzettel: Wenn es tatsächlich etwas zu
entscheiden gibt, dann sind die Bürgerinnen und Bürger nicht
wahlmüde. Ganz im Gegenteil: Die Wahlbeteiligung in Baden-Württemberg
und Rheinland-Pfalz ist sehr deutlich angestiegen. Das alles gibt
Anlass, in die Stabilität unserer Demokratie zu vertrauen. Der
Wahltag hat vor allem einen großen Sieger, und das sind die Grünen.
Natürlich haben sie den Vorteil gehabt, dass die dramatische
Entwicklung der japanischen Atomkatastrophe ihr Geburts- und
Kernthema in den Mittelpunkt der politischen Debatte gestellt hat.
Doch der Erfolg der Grünen geht über diese erfolgreiche Atomdebatte
weit hinaus. In Baden-Württemberg hat es die Öko-Partei zum ersten
Mal auf Platz zwei der Rangfolge der Parteien geschaft. Erstmals seit
den 1950er Jahren könnte es wieder einen Ministerpräsidenten geben,
der nicht aus SPD oder CDU stammt. Das wird Deutschland verändern.
Bitter ist das vor allem für die SPD. Sie hat derzeit kein eigenes
Thema. Das wird der Partei noch schwer zu schaffen machen. Sie
braucht dringend einen neuen Politikentwurf, wenn sie eine führende
politische Kraft bleiben will. Verloren ist dieser Kampf im Bund
nicht. Denn dass die Mehrheit der Bundesbürger sich etwa für einen
grünen Kanzler Trittin erwärmen könnte, erscheint bis zum Beweis des
Gegenteils abwegig. Doch selbst für die Union sind die Grünen, wie
sie sich in Baden-Württemberg präsentiert haben, ein nicht
ungefährlicher Konkurrent. Die Öko-Partei lässt sich dort weder als
Versammlung politischer Revoluzzer noch als die weltfremder Spinner
abtun. Mit ihrem Spitzenkandidaten Winfried Kretschmann sind
sie für das wertorientierte Stammpublikum der Union gewissermaßen die
bessere Alternative. Das ist eine ernste Bedrohung. Es erweist sich
nun als schwerer Fehler, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel ohne Not
die schwarz-grüne Option im Gefühl sicherer Umfragewerte gekippt hat.
Bleibt die FDP. So wie bislang kann die liberale Partei kaum
weitermachen, wenn sie nicht ihre Existenz gefährden will. Sie
irrlichtert wieder zwischen einem nationalliberalen
Gesellschaftsentwurf und ihrem Auftrag als Bürgerrechtspartei. Gut
möglich, dass wir noch in dieser Woche personelle Konsequenzen sehen
werden. Falsch wäre das sicher nicht. Für Merkel ist es erheblich
schwieriger geworden. Die Kanzlerin wird sich für ihre hektischen
Kurswechsel in der CDU zu verantworten haben. Es besteht Zweifel,
dass ihre Politik tatsächlich „alternativlos“ ist. Sie hat schon
heute Parteifreunde, die das anders sehen. Die Frage ist, wann die
das öffentlich sagen.

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