Neue Westfälische (Bielefeld): KOMMENTAR Libyen-Konflikt offenbart Führungsschwächen Europa in der Krise THOMAS SEIM

Es geht ein Riss durch Europa. Wir sind gut
beraten, die Gefahr nicht zu unterschätzen. Der Libyen-Konflikt
offenbart eklatante politische Schwächen und wird zur Gefahr für die
NATO und den alten Kontinent. 1. Es gibt keine Führung. Das
militärische Eingreifen gegen Libyen lässt das stabil geglaubte
Bündnis der NATO in atemberaubendem Tempo auseinanderfallen. Ein
französischer Präsident mit miesen Umfragewerten und einem immer
offensichtlicher werdenden Minderwertigkeitskomplex kann seinen
Flugzeugträger gar nicht schnell genug in den Krieg schicken. 2. Die
deutsche Innenpolitik regiert die Außenpolitik – ein Kardinalfehler.
Die Furcht vor den Landtagswahlen und wackelnden Mehrheiten am
Wochenende lässt ausgerechnet eine christlich-liberale Regierung aus
der Solidarität mit den USA und dazu auch noch Frankreich zugunsten
einer zweifelhaften Nähe zu Russland und China aussteigen.
Außenpolitisch ist das ein Risiko, das viele Christdemokraten, die
ohnehin mit dem ungeliebten Außenminister hadern, nicht mehr nur
hinter vorgehaltener Hand, sondern Merkel ins Gesicht sagen. Selbst
wenn der Vergleich mit der Absage des Altkanzlers Gerhard Schröder an
den Irak-Krieg inhaltlich stimmig wäre – was er nicht ist: Wie löst
diese Koalition dann den Widerspruch zwischen ihrem damaligen Willen
zur Solidarität mit den USA und dem heutigen Versagen genau dieser
Solidarität? 3. Die USA fallen als Führungsnation aus. Vielleicht ist
das die schwerste Bürde, die US-Präsident Obama den Europäern auf die
Schultern legt. Jahrzehntelang konnte der alte Kontinent sich darauf
verlassen, dass die USA ihm im Zweifel den Weg weisen. Darauf ist
angesichts innenpolitischer Instabilität in den USA kein Verlass
mehr. Man muss fürchten, dass auch dies fatale Wirkungen für Europa
hat. 4. Der Zusammenhalt schwindet. Selten zuvor hat die Türkei sich
so klar von einer gemeinsamen NATO-Strategie abgesetzt wie derzeit.
Mit einem islamischen Führer, der schon mehrfach – unter anderem
gegenüber dem Iran – mit seiner Mittlerposition kokettiert hat, kann
der Libyen-Konflikt sich zur Belastung an der Südostflanke der NATO
ausweiten. 5. Russland schwankt. Zwischen Präsident Medwedew und dem
heimlichen Machthaber, Ministerpräsident Putin, ist über die
Libyen-Krise ein Konflikt offenbar geworden, der in dieser Heftigkeit
bislang nur vermutet werden konnte. Vor den in Russland anstehenden
Wahlen macht dies das Land nicht stabiler und damit berechenbarer. Es
scheint, als drohe sich Geschichte zu wiederholen und der
Nationalstaat in Europa wieder aufzuerstehen. Ein Beobachtung, die
wir schon aus der Euro-Krise kennen. Das wäre ein Desaster – für das
europäische Friedenswerk und damit für jeden Bürger. Man hofft, dass
sich Führungsfiguren von der Qualität eines Helmut Schmidt, eines
Helmut Kohl, eines Giscard d–Estaing oder François Mitterrand finden
mögen, die das europäische Werk wieder richten. Ihre Nachfolger indes
sind gewogen und für zu leicht befunden.

Pressekontakt:
Neue Westfälische
News Desk
Telefon: 0521 555 271
nachrichten@neue-westfaelische.de